Es dauerte zehn Wochen. In Woche zehn kam ich an meinem neuen Arbeitsplatz in die Situation, die ich schon oft erlebt habe. Sie geschieht wöchentlich, manchmal täglich. Im Kollegenkreis, im Privaten, beim Kochen, und jedes Mal, wenn ich etwas mit Bargeld bezahlen will.
Ich kann nicht rechnen.
Wenn jetzt jemand von Euch sagt: „Ja nun, ich war in Mathe auch nie sonderlich gut“, dann habt ihr noch nicht verstanden, was ich meine. Es ist nicht nur so, dass ich nicht gut in Mathe war, sondern ich kann gar nicht rechnen.
Finger weg von den Fingern: Mein inneres Würfelauge
Ich verstehe Zahlen nicht, Mengen nicht, Größen nicht. Das Ergebnis von 3 plus 7 bekomme ich noch hin, aber 27 plus 19 ist schon nicht mehr möglich. Ich kann es nicht rechnen, ich muss das Ergebnis zusammenzählen, gern anhand meiner Finger. Weil es aber irgendwann verboten war, mit den Fingern zu zählen, habe ich mir Hilfen ausgedacht. Ich Zähle die Zahlen anhand von Würfelaugen. Die Zahlen 1 bis 6 sind auf einem Würfel drauf, für die restlichen Zahlen gibt es klare Regeln. Eine 7 sind entweder 5 plus 2 Augen oder 6 plus 1. Niemals aber 4 plus 3, denn das fühlt sich völlig absurd an. Wenn ich ein Rezept mit Mengenangaben für vier Personen habe, aber nur für zwei kochen will, fällt es mir schwer, alles zu halbieren. Die Hälfte von 750 ml Gemüsebrühe? Schwierige Sache das! Ich muss die Hälfte von 700 plus die Hälfte von 50 zusammenzählen, aber wenn ich bei der Zahl 25 angelangt bin, habe ich schon das Ergebnis von 700 geteilt durch 2 vergessen. Bei den simpelsten Zahlen lasse ich den Computer rechnen. Der rollt permanent mit den Augen und ich bin mir sicher, irgendwann fragt mich seine Stimme, wie doof man eigentlich sein kann. Positive Auswirkung meiner Dyskalkulie bezüglich der Essenszubereitung ist, dass ich gut frei Schnauze kochen kann.
Wenn ich einen Termin um Viertel nach Drei bekomme, sage ich: Gut, dann komme ich um 15.15 Uhr, richtig? Oder ich schreibe in meinen Kalender Viertel nach Drei. Bei den Schwaben wird es ganz kompliziert. Wer zum Teufel hat sich das mit dreiviertel Vier und Viertel Drei ausgedacht? Völlig bescheuert.
Wie kam es eigentlich zu meiner Dyskalkulie? Was die Wissenschaft dazu sagt, weiß ich nicht, und um ehrlich zu sein, ist es mir auch egal. Ich kann den Beginn meines Krieges zwischen mir und den Zahlen ganz klar benennen, womit wir in der Horrorgeschichte meiner Kindheit ankommen: Der Schulzeit, genauer gesagt dem Mathematikunterricht.
Ungenügend? Ihr könnt mich mal!
Wer von euch kennt noch das „Spiel“, bei dem alle aufstehen und dann Matheaufgaben beantworten mussten? Wer die Lösung parat hatte, durfte sich setzen. Je weniger der anderen Kinder noch standen, umso panischer wurde ich. Waren nur noch drei oder vier Kinder übrig, durften sie sich setzen, ohne eine Aufgabe gelöst zu haben. Ich war prinzipiell eines davon, oder aber ich bekam eine so unglaublich einfache Aufgabe gestellt, dass es die anderen Kinder einfach nur noch lächerlich fanden.
Ich wurde ausgelacht.
Ich war beschämt.
Ich war so lange beschämt, bis meine Laufbahn als Schulversagerin begann, denn was ich durch dieses „Spiel“ lernte, war: Spar dir deine Mühe, du bekommst es eh nicht hin, also Scheiß drauf. Diese Einstellung, diese Mentalität gegenüber der Schule war wenigstens etwas, das ich selbst gewählt hatte, ganz aus freien Stücken heraus. Meine Entscheidung, basta. Ihr könnt mich mal!
Mir war als Kind nicht bewusst, durchs Raster gefallen und in eine Situation geraten zu sein, aus der ich allein nicht mehr herausfand. In meiner Kindheit und Jugend gab es zwar ein anfängliches Bewusstsein für Legasthenie, aber das Wort Dyskalkulie war unbekannt. Ich war kein Kind, das Unterstützung brauchte, ich war eine Verweigerin.
Am Ende wurde ich aus der Abiturklasse der Gesamtschule geworfen. Mein Zeugnis? 4 mal befriedigend, 3 mal ausreichend, 1 mal mangelhaft. Mathe: ungenügend. Klar. Deutsch: Gut. Auch klar. Ich drehte eine Extrarunde und schaffte Dank Fächern wie Geschichte, Biologie und natürlich Deutsch zumindest den Realschulabschluss, bei dem ich knapp an einer 1 vor dem Komma vorbeischrammte. Die Theaterakademie verließ ich dann aber mit dieser 1 vor dem Komma im Abschlusszeugnis.
Muss ich Oma oder den Kuchen in Stücke teilen?
Heute verstecke ich meine Dyskalkulie nicht mehr. Jeder darf es wissen. Ich schäme mich nicht dafür. Bei meinem Arbeitsplatz outete ich mich in Woche zehn, weil ein verheimlichen nicht mehr möglich war.
Niemand hat nach der Schulzeit noch einmal über mich und meine Unfähigkeit für das Rechnen gelacht. Oft finden meine Mitmenschen meine Dyskalkulie sogar sehr interessant. Einfach, weil es etwas – für normal mathematisch begabte Menschen – unverständliches ist. Immer wieder begegnen mir Menschen auf meine Unfähigkeit mit einer großen Neugier. Wie lebt man damit? Wie liest man ein Rezept? Wie bezahlt man im Restaurant, beim Bäcker, im Supermarkt? Die Sache lässt sich ganz einfach erklären (ich habe es in ähnlicher Form mal in einem der sozialen Medien gelesen).
Für mich klang Mathe immer so: Zwei Fische fliegen durch die Wüste, der eine ist rot, der andere heißt Heinz. Was wiegt die Palme, wenn es regnet?
Oft geht es in solchen Aufgaben um Omas, die einen Kuchen backen. Sie haben so und so viele Gäste und so und so viele Äpfel und es geht um die Anzahl von Kuchenstücken. Für mich klingt das nach Fischen in der Wüste. Ich weiß einfach nicht, was die Aufgabe ist, obwohl sie ja als Frage am Ende der Aufgabe gestellt wird. Aber ich weiß nicht, was ich machen soll. Muss ich die Äpfel durch Oma teilen? Die Oma durch die Anzahl der Gäste? Die Wurzel aus den Gästen ziehen? Die Fische mit den Äpfeln multiplizieren? Fische waren gar nicht in der Aufgabe? Auch so eine Sache: Ich bringe alles durcheinander, wenn es ums Rechnen geht.
Offenheit befreit
Was Hilft und immer geholfen hat ist Offenheit. Ich bin auch noch doppelt und dreifach gehandicapt, denn ich kann durch einen Augenfehler nicht dreidimensional sehen und bin eine Beidhänderin, die in der Schule die linke Hand nicht mehr benutzen sollte, weil man irgendwann für mich entschieden hatte, eine Rechtshänderin zu sein. Beim Bogenschießen hatte ich einen Bogen für Linkshänder, und auch mit dem Luftgewehr schoss ich auf Links. Aber ich schreibe mit rechts. Ich komme mit den Warm- und Kaltwasserhähnen durcheinander, plane immer mehr Zeit zu einem mir unbekannten Ort in der Stadt ein, weil ich mich ständig verlaufe, und manchmal verstehe ich nicht, was ich sehe, weil mir die dritte Dimension fehlt.
Meine Welt ist irgendwie nicht logisch. Aber ich mag sie. Wer braucht schon Logik, wenn er in der Welt der Sprache leben kann? Ich habe es da als Schriftstellerin doch ganz gut getroffen, oder?
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