„Ich kann nicht mehr“ lautet der erste Satz in Isabel Bogdans Roman Laufen, und damit ist nicht nur das titelgebende Laufen gemeint. Der Roman, erschienen beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, behandelt auf sehr eindringliche Weise die Themen Trauer und Verlust.

In Laufen geht es um eine namenlose Ich-Erzählerin, die nach dem Suizid ihres Partners durch das Laufen versucht, sich mit ihren überwältigenden Gefühlen auseinanderzusetzen. Für mich war die Lektüre aus persönlichen Gründen heilsam. Einige Jahre meines Lebens war ich mit einem schwer depressiven, suizidgefährdeten Mann liiert und kenne aus dieser Zeit, das Gefühl, gewisse eigene Emotionen nicht zulassen zu dürfen. Als angehörige Person fühlt man sich oft gezwungen, stark zu sein und die eigenen Emotionen zu unterdrücken. Ständig ist man in Alarmbereitschaft, denn jeder noch so kleine Satz oder jede unbedachte Handlung könnte eine depressive Phase auslösen.

Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als mein damaliger Partner und ich zu einem Spaziergang aufgebrochen waren und ich spontan vorschlug, statt in den Wald über das sonnenbeschienene Feld zu laufen. Ein Fehler, der eine schlimme Phase auslöste. Jede Spontanität konnte zu einer Überforderung führen, jedoch war über Tage hinweg Spontanität kein Problem. Eine Depression kennt oft keine Regeln, sie ist nicht voraussehbar oder lauert unbemerkt im Hintergrund, wo sie nur auf diesen einen winzigen Satz oder diese eine unbedeutende Handlung wartet, die ihr die Tür öffnet. Situationen wie diese zermürben nicht nur die von einer Depression betroffene Person, sondern auch die Angehörigen. Irgendwann verwandeln sich die unterdrückten Gefühle aus Traurigkeit, Angst und der unterschwelligen Überforderung in eine Emotion, die ich mir lange nicht erlaubte: Wut.

Isabel Bogdan gibt ihrer Protagonistin den Raum, diese Wut auszusprechen, und das auf eine grandiose Weise. Gerade diese Wut wird an manchen Stellen auf eine herrlich erfrischende, wohltuende, weil so ehrliche Art ausgedrückt, dass ich manchmal lachen musste. Die Protagonistin spricht geradeheraus aus, wie sauer sie manchmal ist. Diese Offenheit hat mir das Herz geöffnet. Wenn sie, die Protagonistin das fühlt, dann ist es kein verbotenes Gefühl, das unterdrückt werden muss, um den Partner nicht zu gefährden, sondern es ist ein wichtiges Gefühl, das seinen Raum braucht.

Mit Monotonie gegen die bösen Gedanken ankämpfen

Das Laufen, dieses sture „einen Fuß vor den anderen setzen“, ist bei Bogdan Flucht vor der Realität und Mittel zugleich, um sich den quälenden Gedanken zu stellen. Durch das monotone, rhythmische Laufen kann die Erzählerin allmählich ihre Emotionen ordnen und ihren inneren Zustand reflektieren. Nach und nach kommen helle Momente zurück in ihr Leben und ihre Freude über zwei simple Apfelschnitten, die ihr bei einem Stadtlauf von der besten Freundin in die Hand gedrückt werden, sind Quell einer einzigartigen und sehr mitreißenden Freude. Da sieht man es mal wieder: es sind die kleinen Dinge, die unser Leben lebenswert machen. Isabel Bogdan hat das großartig beschrieben.

Natürlich habe ich aufgrund meiner eigenen Erfahrung mit der Thematik stark auf das Buch reagiert, aber bis heute scherze ich, dass dieses Buch speziell für mich geschrieben wurde. Warum? Die Protagonistin ist Musikerin, ist also sehr in der künstlerischen Welt verankert. Ihr Partner war ein leidenschaftlicher Oldtimersammler, der sich nicht mit der Welt der Künstler anfreunden konnte und ein Gefälle zwischen beiden Welten sah. Als ich diese Stelle las, dachte ich: das ist eine Geschichte geschrieben für mich, denn dieses Gefälle zwischen zwei Welten kenne ich nur zu gut – obwohl ich selbst es nie wahrgenommen habe. Besagte Stelle im Buch erinnert mich an eine Situation aus meiner Zeit am Theater. Es gab das immergleiche Muster dort: Kunst liiert sich nur mit Kunst, Technik nur mit Technik. Ausnahmen gab es, ich war eine davon. Ich erinnere mich an den Schauspieler, der mich fragte, ob ich später auch als Regisseurin arbeiten wolle.  »Klar«, antwortete ich, »warum fragst du?« Seine Antwort lautete: »Es ist nur, weil du mit einem Bühnentechniker schläfst.«

Damals stand ich stumm vor Fassungslosigkeit da und war nicht fähig zu reagieren.

Versöhnung mit dem geschehenen

Isabel Bogdan beschreibt all diese Emotionen auf eine so eindringliche und zugleich leichte Art und Weise, dass ich dieses Buch wirklich jedem empfehlen möchte. Und bitte keine Angst vor der Thematik, denn auch der Humor kommt nicht zu kurz in diesem wundervollen Buch. Vor allem aber erzählt Laufen von der Versöhnung mit dem Geschehenen, vom Loslassen und der Akzeptanz. Es wird oft gesagt, die Zeit heilt alle Wunden. Laufen ist jedoch mehr als ein Buch über Heilung – es ist ein Buch über die Liebe, und das bis zum buchstäblich letzten Wort, das meine Augen mit Tränen füllte.