Die Kurzgeschichte „Die Farbe Gelb“ belegte beim Literaturwettbewerb „Ein Tag in NRW im Jahr 2100“ den zweiten Platz. Der Preis wurde vom WDR und dem Literaturbüro NRW mit Unterstützung des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft ausgelobt. Hier könnt ihr den Text lesen oder hören, ganz wie ihr wollt. Es moderiert Rainer Hagedorn, Bearbeitung Cornelia Müller, Redaktion Stefanie Laaser. Es lesen Cordula Leiße und Dominik Freiberger.

Hier der Link, wer lieber Hören will: https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/ohrclip/ein-tag-irgendwo-in-nrw-im-jahr-zweitausendeinhundert-100.html

 

Die Farbe Gelb

Er weiß, wo der Ort liegt. Es wird dauern, bis er ihn erreicht, denn das abgesperrte Gebiet ist groß. Sie hat den Ort beschrieben in diesem langen Brief an ihn, den er nie bekam, sondern fand, als er ihre Wohnung ausräumte. War sie über die Brücke gelaufen, oder war das Jahr so trocken, dass sie durch das Flussbett gehen konnte, damals, als all dies hier noch von Menschenmassen bevölkert war? Er entdeckt ein paar Jugendliche in einer der Ruinen, die noch vor dem Grenzzaun stehen. Ein Feuer brennt in einem Einkaufswagen, sie trinken Bier aus Flaschen und lachen. Als er jünger war, feierte auch er hier die ein oder andere Party, auch weiter im Inneren des Gebietes, obwohl es verboten war. Das war das reizvolle daran. Dann bauten sie den Grenzzaun, weil die Gebiete rechts und links der Wupper immer wieder überschwemmt wurden. Natürlich gelingt es Menschen regelmäßig, den Zaun zu überwinden. Dann machen sie Bilder von den Ruinen, fotografieren die Dinge des Lebens, die noch da sind und heute wie Zeugen von der großen Flut vor 43 Jahren erzählen.

Er ist nicht hier, um Bilder zu schießen und interessiert sich nicht für das Gesetz, nimm nichts mit, außer deinen Bildern, lass nichts da, außer deinen Fußspuren. Er ist hier, um etwas zu finden.                                  Er entdeckt den Durchgang und betritt das Gebiet. Die Straßen kennt er auch von den Videos, die hin und wieder veröffentlicht werden. Sie werden mit Drohnen aufgenommen, die durch das Gebiet fliegen und durch die zerstörten Fenster in die Gebäude gelangen. Weil der Zugang auf der anderen Seite entdeckt und verschlossen wurde, muss er von dieser Seite kommen. Als er den Fluss erreicht, entdeckt er den Bus, der sich in einer brutalen Umarmung in der Schwebebahn verkeilt hat. Eines der meist fotografierten Motive, weil es die Brutalität des Wassers sichtbar macht. Der Bus war von der Flut mitgerissen worden und an der Schwebebahn hängen geblieben. Jetzt, da er zum ersten Mal in seinem Leben so weit in das Gebiet hineingeht und das Motiv zum ersten Mal sieht, kommt es ihm vor, als würden all die Bilder lügen. Die Wirklichkeit wirkt anders auf ihn als die Bilder, auf denen dieser Zusammenstoß inszeniert ist. Die Farben sind blasser als auf den gefilterten Bildern und er hört die Vögel singen. Der Realität fehlt die Dramatik der Inszenierung.

Den Fluss überquert er, indem er über den Lastwagen klettert und auf die eingestürzten Träger der Schwebebahn gelangt. Auch so ein beliebtes Motiv. Hin und wieder sieht er sich um in der Erwartung, einige der Urbexer, jener Fotografen, die auf Lost Places spezialisiert sind, zu sehen, aber er scheint allein zu sein. Er überlegt, ob er in das Schauspielhaus oder das Kino gehen soll, aber er will sich nicht ablenken von seinem Vorhaben, und so geht er weiter durch die Straßen, in denen sich noch Dinge stapeln, die von der Flut 2057 mitgerissen und von den Aufräumtruppen nicht weggeräumt wurden. Immer wieder wurde das Gebiet in den Jahren danach von kleineren Überschwemmungen heimgesucht, aber seit einigen Jahren ist Ruhe eingekehrt, zumindest Europa erlebt kaum noch Dürren und auch die Unwetter sind weniger geworden. So wie die Menschen. Ursache und Wirkung. Weniger Menschen, weniger Katastrophen. Beides führt ihn hierher. Ein Mensch und eine Katastrophe.

Manchmal scheint es ihm, als könne er ihre Stimme hören, wenn er sich die Passagen aus dem Brief ins Gedächtnis holt, in denen sie von all dem hier schrieb. Wie sie hierher kam, um sich ein neues Kleid zu kaufen, weil sie schön aussehen wollte an ihrem Geburtstag, an dem sie plante, einen wundervollen Abend mit ihrem Mann, seinem Vater, zu verbringen. Sicherlich war seine Mutter froh, als sie das Gebäude betrat, weil es dort kühler war als draußen in der Sonne. Auch heute ist ein Tag im Sommer, aber er ist angenehm. Nicht so wie 2057. Überall auf und auch in den Ruinen wächst das Grün, eine Farbe, die es damals weniger gab als heute. Er biegt in eine Straße ein und sieht das Gebäude, das er sucht, an ihrem Ende. Als er es erreicht, läuft er um das Gebäude herum dorthin, wo einst der Haupteingang war und steigt durch die zertrümmerten Glastüren in das Innere des Gebäudes. Früher war es ein Einkaufszentrum gewesen, aber wie die meisten anderen Zentren dieser Art wurde es in den 2030er Jahren umstrukturiert zu einem Entertainment-Center, weil die Menschen weniger einkaufen gingen, sondern nur noch online kauften. 2057 gab es hier kaum noch Geschäfte, das Zentrum bot stattdessen Coworking-Places, Wellness, Restaurants und Freizeitangebote an. Ein riesiger Indoor-Spielplatz, eine Game-Arena mit riesigen Bildschirmen, auf denen man die Spiele miterleben konnte, Sportangebote und Ärzte. Die Menschen investierten damals in Erfahrungen, in Gesundheit, Spaß, in Geselligkeit. Nicht in Dinge. Er weiß aus ihrem Brief, dass seine Mutter nach einem Besuch bei einem Arzt in eines der wenigen Bekleidungsgeschäfte ging und sich ein gelbes Kleid kaufte. Vorsichtig geht er durch die Passage, vorbei an Räumen, in denen noch einige Dinge herumliegen so, wie die Aufräumarbeiten sie zurückgelassen haben. Es sind nicht viele. Kaum noch Spuren sind zu finden von der Suche und Bergung der Menschen, die hier ihr Leben verloren. Ein paar Helme, einige Taschenlampen, eine Axt. Das Zentrum erscheint ihm wie eine leere Erinnerung. Eine Vergangenheit, die zurückgelassen wurde. Er gelangt zur Rolltreppe und geht in den ersten Stock. Auf der Fläche des Indoor-Spielplatzes stehen noch die Klettergerüste, die Gestelle der Schaukeln und die Rutschen, weil sie im Boden verankert sind. Die Trampoline sind eingerissen. Nur noch eine Schaukel hängt am Gerüst, auf der linken Seite ist die Kette gerissen. Auch so ein Fotomotiv der Urbexer. Er dreht sich um und blickt auf eines der bekanntesten Motive des Gebäudes: das Karussell. Bedeckt mit Staub und Dreck stehen die Pferde da, verharren seit Jahrzehnten in ihrer Bewegung und träumen von dem Tag, an dem sich das Leben hier wieder weiterdrehen wird. Die Außenscheibe ist zersplittert, er hört die Vögel zwitschern und dann ein Geräusch vom Karussell. Bewegungslos hält er inne. Die Katze, die neben einem der Pferde sitzt, sieht ihn an. Nichts geschieht sonst, nur der Blick zwischen ihm und dem Tier. Der Moment ist lang und friedlich. Dann erhebt sich die Katze und trottet in die Passage, und auch er macht sich auf den Weg in das obere Stockwerk. Hier befanden sich nebeneinander ein Schuhgeschäft, ein Buchladen und zwei Bekleidungsgeschäfte. Im Schuhladen liegen noch viele der Schuhe herum, ihre Verwitterung braucht Zeit. Manche sind verbrannt. Er folgt den Spuren des Brandes bis in das Geschäft, in dem seine Mutter damals das Kleid aussuchte. Heute sind hier keine fröhlichen Farben mehr. Heute ist hier nur noch die Leere nach dem Feuer.

Ich habe es dir nie gesagt, schrieb sie in ihrem Brief, ich habe es dir nie gesagt, weil der Gedanke für mich bis heute zu schmerzhaft ist. Ich wollte nie, dass auch du diesen Schmerz fühlst. Für dich sollte diese Geschichte ein Ende haben, und so erzählte ich dir nie, dass deine Schwester noch dort ist. Sie haben ihren Körper nie geborgen, sie konnten sie nicht finden. Er geht durch den verbrannten Laden zurück in die Passage. Von hier oben musste sie heruntergeschaut haben, als das Wasser in das Erdgeschoß strömte. Gegen 14.00 Uhr war ein Unwetter aufgezogen und hatte die Wupper über die Ufer treten lassen. Natürlich gibt es hunderte Videoaufnahmen davon. Auf einem ist seine Mutter zu sehen, wie sie durch die Passage stolpert. Deine Schwester wurde im Schock geboren, während wenige Meter unter mir die Menschen ertranken. Ich habe sie in das gelbe Kleid gewickelt, das ich mir ausgesucht hatte. Ich habe dieses kleine Wesen in meinen Armen gehalten, das einzige Kind, das wir haben würden, weil wir zu den Menschen gehörten, die sich an die Empfehlungen halten wollten, nicht mehr als ein Kind zu haben. Es war ein heißer Tag in der Dürreperiode des Jahres 2057.

Die Bücher im Buchladen sind kaum noch zu erkennen. Papier verträgt die Witterungen nicht, es ist nicht geduldig. Er sieht sich nach der Kasse um, von denen es zwei gibt. Die eine steht geöffnet und verwittert mitten im Raum, also muss es die andere sein, das weiß er aus dem Brief. Die Kasse, hinter der seine Mutter seine Schwester zur Welt brachte.

Noch heute kann er den Geruch des Brandes wahrnehmen. Das Feuer, das seine Mutter und die anderen Menschen im zweiten Stock zwang, in den ersten zu flüchten, wo sie eingesperrt waren zwischen dem Hochwasser und dem Feuer.

Er geht den Weg zurück über die Rolltreppe in den ersten Stock. Wo war es geschehen? Wo verlor sie das Baby in den Fluten, weil sie mitgerissen wurde, als das Wasser den ersten Stock erreichte? Er erschrickt, als er einen gelben Fetzen entdeckt und lacht gleich darauf leise. Hatte er tatsächlich für einen Moment gedacht, hier das kleine Wesen eingewickelt in dem gelben Kleid zu finden? Es ist nichts weiter als ein gelbes Stück Plastik. Es gibt hier nichts mehr zu bergen. Wo auch immer der winzige Körper seiner Schwester hingetrieben wurde, er wird dort nicht mehr sein. Die Natur überzieht die Katastrophe seit 43 Jahren mit Leben. Nimm nichts mit, außer deinen Bildern, lass nichts da, außer deinen Fußspuren, lautet das Gesetz. Doch hier, von diesem Ort, wird bald alles mitgenommen werden. Sie werden all das abreißen. Es gibt kaum noch Dürren, es gibt kaum noch Überschwemmungen. Nicht hier in diesem Teil der Welt. Hier, an diesen Ort, werden die Menschen zurückkehren, es werden neue Häuser gebaut, neue Gärten angelegt und ein neues Gebäude für die Menschen wird gebaut werden, wo sie sich treffen und das Leben genießen können. Hier werden wieder Menschen leben. Vielleicht sogar auch er. Leben an dem Ort, an dem der Grund seines eigenen Daseins stattfand, weil seine Mutter kein zweites Kind wollte. Wäre diese Katastrophe nie geschehen, er wäre nie geboren worden. Er fühlt sich verloren. Verloren in dem Gefühl, nur zu existieren, weil dies hier geschehen ist.

Weil er nicht weiß, was er tun soll und sich nicht zur Rückkehr entscheiden kann, beginnt er, Fotos zu machen. Er fotografiert die Pferde des Karussells und auch die Schaukel. Die leeren Rolltreppen, einen Schuh, das zerbrochene Oberlicht und die Katze, die zurückgekommen ist. Er lockt sie an und sie kommt zu ihm. Er hebt sie hoch und bemerkt, dass sie noch jung ist.

„Dein Zuhause wird bald wieder von Menschen bewohnt werden“, sagt er zu ihr. Eine Weile krault er sie hinter den Ohren und sieht sich nach weiteren Motiven um, findet eins in Form eines alten Vogelnestes in einem Buchstaben einer damaligen Restaurantkette und setzt die Katze zurück auf den Boden. Sie streicht ihm um die Beine und folgt ihm in Richtung des Ausgangs. Den ersten Teil des Gesetzes hat er nun erfüllt, denkt er, aber den zweiten, den wird er nicht erfüllen. Er wird mehr dalassen, als nur seine Fußspuren. Er wird gehen, und das Gefühl hierlassen, nicht genug zu sein und nur zu existieren, weil dies hier geschehen ist.

Als er aus dem Gebäude heraustritt, sieht er in den sommerlichen Himmel. Die Katze folgt ihm durch die leeren Straßen, die Vögel singen ihre Lieder und überall zwischen den Ruinen blühen Pflanzen.

Manche davon sind gelb.