Die Kurzgeschichte „Siebzehn Tage“ wurde 2022 mit dem dritten Preis des Moerser Literaturpreises ausgezeichnet. Das Thema lautete „Versprochen“.

 

Der Novembernebel liegt auf den Feldern des Tals. Samuel geht über den Waldweg und bleibt stehen, als er aus dem Wald heraustritt. Die Sonne erscheint gerade erst über dem Horizont, auf der oberen Lichtung glitzert der Tau auf den Grashalmen und den Blättern, die dort unter den wenigen Bäumen seit dem Herbst liegen und verwittern. Er hat noch drei Tage Zeit. Vielleicht heute, vielleicht wird es heute passieren. Spätestens in drei Tagen muss es geschehen sein, aber vielleicht hat er heute Glück.

Er setzt sich wieder in Bewegung, denn es ist kalt. Die Nacht war klar, der Nebel liegt in dicken Schwaden über dem Tal. Seine Suche dauert schon vierzehn Tage. So lang war er noch nie unterwegs, nur um ein einziges Tier zu schießen. Der Hirsch war ihm im dichten Wald vor das Gewehr gelaufen, aber es war ihm nicht gelungen, ihn zu erlegen. Das Geweih des Tieres war gewaltig, Samuel hatte vierundzwanzig Enden gezählt, aber er mag sich auch täuschen, die Sicht war nicht gut. Seitdem sucht er das Tier jeden Tag. In drei Tagen wird er in den Ruhestand gehen, er wird sein Revier einem jüngeren Mann übergeben. Sicher, er kann danach noch auf die Jagd gehen, aber dieses gewaltige Tier will er unbedingt in seiner aktiven Zeit erlegen. Es soll seine Trophäe werden.

Die Suche nach dem Hirsch tut ihm gut, weil sie ihn ablenkt. Warum er so besessen von dem Tier sei, fragte ihn die Tochter vor wenigen Tagen. Ob es nicht sinnvoller sei, sich um andere Dinge zu kümmern. Um seine Frau zum Beispiel. Aber seine Frau sagt: „Geh raus, geh zur Arbeit, such deinen Hirsch.“ Trotzdem, die Tochter versteht es nicht und sagt, er verdränge das, was mit seiner Frau passiert. Aber das ist nicht wahr. Seine Tochter hat keine Ahnung. Er weiß genau, was mit seiner Frau passiert. Sie stirbt. Nicht irgendwann, nicht demnächst, nicht vielleicht in ein paar Tagen. Nein, sie stirbt jeden Tag ein kleines bisschen mehr, wird seit Monaten von innen immer mehr aufgefressen. Sie ist abgemagert, schafft es kaum noch, etwas zu essen. Und dennoch ist sie so voller Ruhe und Liebe für all das, was sie umgibt.

Sie hat den Krebs angenommen, weil sie keine Chance mehr gegen ihn hat. Und das macht Samuel wütend. Er weiß nicht, wohin mit dieser Wut, aber wenn er draußen im Wald ist, wenn er kranke Bäume fällt oder auf der Jagd ist, wenn er körperlich hart arbeitet, drehen sich die Gedanken nicht ständig um seine Frau und darum, dass sie bald nicht mehr bei ihm sein wird. Was soll er ohne sie machen? Mit wem kann er sich unterhalten am Morgen, am Abend? Sein ganzes Leben ist sie schon an seiner Seite. Er war erst zweiundzwanzig, als sie heirateten.

Samuel ist an der unteren Lichtung angekommen. Der Hirsch ist nicht zu sehen. Würde das Tier nun auf der Wiese erscheinen, er könnte es im Nebel nicht erlegen. Wer weiß, ob am Waldrand nicht schon jemand mit einem Hund unterwegs ist, oder ein früher Sportler, der dort entlangläuft? Drei Stunden lang sucht er das Tier. Es taucht nicht mehr auf. Ein weiterer Tag geht zu Ende. Nun sind es nur noch zwei.

 

Zu Hause schließt er sein Gewehr weg und stellt sich unter die Dusche. Seine Frau schläft auf der Couch, aber sie war wach, als er hereinkam. Müde sah sie ihn an, als er ihr einen Kuss auf die Stirn gab.

„Deine Haare sind ja ganz nass“, sagt sie, als er sich nun neben sie auf die Couch setzt.

„Das macht nichts“, antwortet er. „Die trocknen von alleine. Worauf hast du Hunger?“

Ihre Lippen werden schmal und sie neigt den Kopf ein wenig zur Seite.

„Ich versuche mich an ein paar Salatblättern, wäre das ein Vorschlag?“

Sie lächelt und sieht ihm nach, als er in der Küche verschwindet, um ein Abendessen zuzubereiten. Er kocht sich Nudeln mit einem großen Stück Wildschweinrücken, wäscht einen Kopfsalat und macht die Sauce so, wie sie seine Frau am liebsten isst. Die Teller trägt er an den Wohnzimmertisch, der seit Monaten der Lebensmittelpunkt in ihrem Leben ist.

„Möchtest du etwas Wildschwein?“, fragt er und schneidet ein winziges Stück von dem Fleisch ab. Tatsächlich isst sie es, was ihn beruhigt.

„Wie war dein Tag?“

Samuel trinkt einen Schluck von seinem Bier. „Unmengen an Papierkram heute, aber ich habe den Stapel fast weggearbeitet. Dafür saß ich ab elf Uhr am Schreibtisch.“

„Und dein Hirsch? Hast du ihn gefunden?“

„Nein.“

„Bist du sicher, dass er überhaupt existiert?“ Sie lacht.

„Zwei Tage habe ich noch. Ich werde ihn finden.“

Sie legt ihm die Hand auf seinen Arm. „Schatz, hast du mal darüber nachgedacht, was du da tust?“

„Natürlich“, sagt er knapp. Er will nicht darüber sprechen, also steht er auf und räumt das Geschirr weg. Er wischt die Arbeitsfläche in der Küche mehrmals mit dem Lappen ab, er schindet Zeit und hofft, sie spricht das Thema nicht noch einmal an. Als er zurück ins Wohnzimmer kommt, ist sie schläfrig. Im Fernseher läuft eine Liebeskomödie, aber als ihre Atemzüge tiefer werden, schaltet er auf einen Krimi um.

Auch wenn es sich um einen gut gemachten Film handelt, kann sich Samuel nicht konzentrieren. Schon bald merkt er, er versteht die Geschichte nicht, weil er mit den Gedanken in der Vergangenheit ist. An einem Tag im September, als er mit seinem Vater im Wald unterwegs war. Die Ausbildung zum Förster hatte er erst vor wenigen Monaten beendet, die Försterei und die Jagd war eine Tradition in der Familie. Sie zu brechen war unmöglich. Der Vater war das gefährlichste Tier in Samuels Leben, wenn er betrunken war, nahm er den Gürtel so, dass die Seite mit der Schnalle auf Samuel traf, nicht das andere Ende. Einmal war es auch das Gesicht der Mutter. Für die Nachbarn war es natürlich ein Treppensturz gewesen, auch wenn jeder Bescheid wusste.

Samuel war die vierte Generation in der Familie, die sich um den Wald kümmerte. Sie waren auf der Jagd nach einem verletzten Tier, einem Vierundzwanzigender, so erzählte es ihnen der Mann, der das Tier auf einer Lichtung entdeckt hatte, eine blutende Wunde an der Flanke. Samuel mochte die Jagd von Anfang an nicht sonderlich, aber ein verletztes Tier war etwas anderes. Als sie Blutspuren entdeckten, folgten sie ihnen in den Wald hinein. Und dann geschah es. Der Hirsch musste am Boden gelegen haben, denn sie sahen ihn nicht, als er aus der Deckung hervorbrach, weil Samuel und sein Vater ihm zu nahe kamen. Beide Männer legten ihre Gewehre an, aber als sein Vater einen Schritt machte, blieb er an einem Ast hängen und stürzte zu Boden.

„Schieß, Junge!“

Aber Samuel schoss nicht. Er sah, wie der Hirsch in Panik auf den Vater zurannte, der versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Es war zu spät, er konnte nicht mehr ausweichen, der Hirsch schleuderte ihn auf seiner Flucht zur Seite, wo sein Körper schwer auf einen Baum aufprallte.

Der Vater war drei Tage später verstorben, der Hirsch wurde nie wieder gesehen. Aus Samuel wurde ein Förster, der den Wald liebte, aber das Jagen nur selten ausübte. Die Geschichte ließ ihn nie los. Er war schuld am Tod seines Vaters, auch wenn andere versuchten, ihm das auszureden. Und nun war dieser Hirsch aufgetaucht mit seinen vierundzwanzig Enden und brachte all das wieder zurück. Samuel musste es zu Ende bringen.

 

Am nächsten Tag streift er durch einen anderen Teil des Waldes, entdeckt aber keine Spur von dem Tier. Am Abend bereitet er sich und seiner Frau eine Suppe zu, er badet sie und bringt sie früh ins Bett. Dennoch, es geht ihr besser heute. Morgen geht sie zur Therapie. Mit einem Bier setzt er sich ans Fenster und sieht hinaus in die dunkle Novembernacht. Morgen muss er ihn finden. Er will es abschließen, diese ganze Geschichte muss endlich ein Ende finden.

 

Um fünf Uhr morgens steht er auf und geht auf die Pirsch. Wieder findet er keine Spur von dem Tier. Als es dämmert, überquert er die große Lichtung. Der Nebel lichtet sich und lässt die ersten Sonnenstrahlen durch. Die Bäume auf der Lichtung werfen Schatten, die Luft ist feucht, die Natur still bis auf ein paar Vögel, Kleintiere und eine Füchsin, die schnell im Unterholz verschwindet. Die Grashalme rascheln leise unter seinen Füßen. Und dann sieht er ihn. Der Hirsch steht majestätisch am Waldrand und sieht in die aufgehende Sonne. Samuel ist weit genug von ihm entfernt, so dass das Tier nicht die Flucht ergreift. Er legt sein Gewehr an. »Töte ihn«, hört er die letzten Worte seines Vaters. »Versprich es mir, Junge.«
Der Hirsch dreht langsam seinen Kopf zu Samuel. Ruhig und schön steht das Tier dort, Sonnenstrahlen fallen auf sein Fell. Die großen Augen des Tieres sehen Samuel friedlich an. Er zählt die Enden am Geweih. Es sind vierundzwanzig. Er denkt an den Vater, an dieses wilde, brutale Wesen, das er war. Er erinnert sich an die Augen der Mutter, an die blauen Flecken auf ihrem und auf seinem Körper, an den Schmerz. Er denkt an seine eigene Wut, an den Hass, der sich heiß durch seinen Magen fraß und erst aufhörte, als der Vater schon jahrelang tot war.

Samuel senkt sein Gewehr und sieht den Hirsch an. Es kommt ihm wie eine Ewigkeit vor. Eine Ewigkeit voller Frieden. Dann dreht sich der Hirsch um, schreitet am Rand der Lichtung entlang und verschwindet im Wald.

 

„Und, hast du gefunden, was du gesucht hast?“ Seine Frau sitzt mit einer Decke über den Beinen in einem Sessel.

„Ja“, antwortet Samuel, „ich habe endlich gefunden, wonach ich so lange gesucht habe.“