1.

Er konnte sich nicht erinnern, aber ihm war, als gäbe es einen Namen für die Lichtflecken, die die Sonne durch das Laub der Bäume auf den Waldboden legte. Er hatte diese Lichtflecken vor seinem Haus gehabt, doch der Blitz hatte in die Eiche eingeschlagen und den alten Baum zerstört, ihn von Innen zersprengt. Am nächsten Tag hatte er die Kettensäge genommen und sich das Holz geholt. Er hatte seine Kleine auf den Arm genommen und gesagt: „Der Baum wird weiter leben, hier bei uns auf der Terrasse wird er sein. Für immer. Das wird schön, du wirst sehen.“
Die Kleine hatte genickt, einen Stoffhasen am Ohr gehalten und ihm dabei zugesehen, wie er sich Stück für Stück aus dem alten Baum zurecht sägte.
Der Hase muss mal gewaschen werden, dachte er. Aber sie schafften es einfach nicht, ihr das Ding zu entlocken. Wie ein Hund und seine Decke.
Am Sonntagabend war er fertig.
„Gehen wir Mama holen.“
Die Kleine setzte den Hasen auf die Schaukel.

Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, er wäre wieder zurückgekehrt in sein Leben. Das hier, dieser Moment, den habe ich erlebt, hunderte Male, immer wieder, dachte er. Der Moment, in dem er sich mit seiner Frau und Tochter auf die Schaukel setzte und die Lichtflecken auf dem Boden sah.
Der Moment der Ewigkeit.

Seine Tochter hatte noch knapp vier Jahre überlebt. Jeden Tag und jede Nacht von Frühjahr bis Spätherbst zog er ihr langärmelige Kleider an und setzte ihr den Hut mit dem Netz auf. Er schärfte ihr ein, dass die Mücken Mama getötet hatten. Er nannte es töten. Er redete nie davon, dass Mama jetzt bei den Engeln schlief.
„Und wenn es wieder kühler wird, sind die Mücken wieder lieb?“, fragte sie.
„Nein, die Mücken sind dann tot.“
„Und warum kommen sie wieder?“
„Das ist die Natur, die bringt immer neue Sachen, nicht nur Mücken.“
„Und warum töten auch die neuen Mücken?“
„Weil sie eine Krankheit in sich tragen.“
„Werden sie irgendwann wieder gesund?“
„Irgendwann, vielleicht.“

Später hatte sie einen kleinen Berg aus Kieselsteinen gebaut und wollte wissen, wie viele Menschen nun weg seien.

„Gib mir zehn von deinen Steinen“, sagte er.
Sie legten sie in eine Reihe.
„Und jetzt nimm sechs davon weg.“
Die Kleine zählte nach und war erstaunt.
„Gab es früher genug von allem?“

Eines Tages ging er vor das Haus und suchte seine Tochter. Ein Mann stand vor ihr mit einem Buch in der Hand. „Das kommt von Gott“, sagte er zu der Kleinen, die neugierig zu dem Mann hinaufsah. Mit dem Gewehr im Anschlag lief er auf den Mann zu.
„Weg von meiner Tochter!“, rief er.
Der Mann lief rückwärts von ihm fort und sagte: „Es ist Gottes Wille, es ist eine Prüfung!“
Er schoss dem Mann vor die Füße, dreimal, bis er wegrannte.
„Wer ist Gott?“, fragte die Kleine.
„Niemand ist Gott.“

Nach sechs Jahren war der Kontinent abgeriegelt vom Rest der Welt. Und von den zehn Steinen hätte man nun neun wegnehmen müssen.

2.
Er machte sich auf den Weg, ging die alte Landstraße entlang. Früher hatte er wie andere Menschen auch einen Einkaufswagen gehabt, aber heute waren die Straßen aufgeplatzt und Sträucher und kleine Bäume schoben sich durch das kaputte Grau. Ein Fuchs kreuzte seinen Weg, aber er hob sein Gewehr nicht an. „Na, lauf schon zu, Junge.“
Er war selbst ein Tier geworden, hatte sich an einer neuen Stelle eingereiht in die Nahrungskette, jagte und wurde gejagt. Er fand ein Haus, von Efeu überwuchert und somit von der Straße beinahe unsichtbar. Er stemmte die Tür auf und musste lachen, als er die Küche betrat. Die Brombeeren wuchsen durch das kaputte Fenster hinein bis direkt an den Küchentisch. Es gab einen Kamin. Er sicherte das Haus. Da es weit genug von der Straße entfernt lag und er die letzten Menschen vor drei Tagen gesehen hatte, machte er Feuer. Es gab Kaninchen. Von dem gerissenen Pferd einige Wochen zuvor hatte er sich den Schweif abgeschnitten. Bestes Nähgarn, auch als Zahnseide zu gebrauchen. Er besserte mit dem Kaninchenfell seinen Mantel aus. Eigentlich gab es genug Kleidung, die Häuser waren voll damit, aber er hatte das Gefühl, weniger gut zu sehen zu sein, wenn er sich in ein Fell kleidete.
Draußen von der Terrasse kam ein Geräusch.
„Was willst du?“ Der Fuchs sah ihn an, und er gab dem Tier die Reste. „Schmeckt es dir?“
Er fand es immer wieder seltsam, seine eigene Stimme zu hören. Es waren nun fünf Jahre und drei Tage, seit er angefangen hatte, sich für jeden Tag einen kleinen Schnitt in den Körper zu ritzen. Zuerst in die Beine, dann in die Arme. Um nicht verloren zu gehen in diesem Sumpf aus Zeit, die kein Ziel mehr kannte. 1828 Schnitte, seit er alleine war. Straße um Straße, Stadt um Stadt. Zuerst war er nach Süden gelaufen, denn es war Herbst gewesen. Dann nach Westen, dann ungefähr ein halbes Jahr in Richtung Norden. Manche Dinge änderten sich nicht. Jagen und gejagt werden, manchmal von Tieren, manchmal von Menschen. Es gab keine Regeln mehr. Der Stärkere überlebte. Er hatte eine Gruppe von Menschen getroffen, sie hatten sich etwas aufgebaut. Es gab eine Arbeitsteilung: Einige waren zuständig für das Jagen, andere für den Ackerbau, das Kochen oder die Verteidigung. Freiheit gab es dort nicht. Statt Absprachen gab es Vorschriften. Er hatte sich in der Nacht davongeschlichen. Von da an beobachtete er die Gruppen, denen er begegnete, erst. Manchmal versuchte er es mit ihnen. Aber immer wieder ging er fort. Er warf dem Fuchs den letzten abgenagten Knochen hin und legte sich schlafen. Erst am frühen Morgen ging das Tier in den Wald zurück. Er brach auf und folgte wieder einer Straße. Er fand es schade, dass er nun wieder alleine war. Vor 728 Tagen hatte ihn ein Hund begleitet, aber er war gerissen worden. Den Wolf trug er nun als Mantel und nannte es Gerechtigkeit.

Er durchquerte einen Fluss und als er über die Steine sprang, entdeckte er einen Fisch im Wasser. Er kramte seine Angelschnur aus der Tasche und warf den Köder aus.
Fisch klingt gut, dachte er.
Er hatte immer alles gut verstaut, Nützliches tiefer in den Taschen, Waffen immer griffbereit. Nichts durfte verloren gehen, obwohl er viele Dinge bauen konnte. Das hatte er seiner Ausbildung zu verdanken. Soldat war er gewesen, und das, so glaubte er, rettete ihn heute vor der Brutalität, die manche Menschen erfasst hatte. Er stahl nicht, und er tötete keine Menschen, um deren Vorräten zu stehlen – eine verbreitete Vorgehensweise bei vielen anderen Menschen.
Macht stand oft an erster Stelle, noch vor dem Überleben. Er überlebte ohne Barbarei, weil er sich alleine durchschlagen konnte, die Wildnis kannte und ohne Annehmlichkeiten zurechtkam.
Der Fisch biss an, aber er zog ihn nicht heraus. Er wartete, wartete darauf, dass die Schatten hinten dem Baum sich bewegen würden. Schatten auf fünf Uhr, er war jetzt ganz Soldat. Er hatte Geduld. Der Fisch an seiner Angelschnur kämpfte sich in den Tod, die Sonne veränderte ihre Position um einundzwanzig Grad. Fünfzehn Grad pro Stunde – er hatte Zeit, denn heute waren die Tage endlos. Dann bewegte sich einer der Schatten. Er lief auf vermeintlich leisen Sohlen knapp am Waldrand entlang von Baum zu Baum, von fünf Uhr auf halb acht. Hätten die Schatten ihn töten wollen, sie hätten es längst getan, aber er hatte nicht viel bei sich, also war er zum Töten uninteressant. Aber er könnte eine Bereicherung sein für jene, die er „Gruppenmenschen“ nannte, Menschen, die nach dem Ende der Zivilisation versuchten, ein anständiges Leben mit anderen zu führen. Menschen, die sich fernhielten von der Brutalität. Manchmal dachte er, diese Menschen wären Träumer, die sich aus der Nacht heraus ein Leben erträumten. Für ihn war das Leben eine Schaukel aus einem alten Baum, aber dorthin gab es kein Zurück.

Die Schatten waren unsicher, sie verharrten hinter den Bäumen, unschlüssig, was nun zu tun sei. Er zog den Fisch aus dem Wasser und lief einen Weg entlang. Die Schatten folgten ihm und blieben bei Ihresgleichen in der Dämmerung, als er ein Feuer machte und den Fisch auf einen Stock aufspießte. Zwei der Schatten waren jung, sie waren leichte Beute in dieser Welt. Der Schatten, der am Waldrand entlang gelaufen war, war etwas älter, er war leiser als die anderen. Aber auch er war unerfahren. Größe: hundertfünfundsechzig bis hundertsiebzig Zentimeter, Gewicht: zirka sechzig Kilo. Sportlicher Typ.
Aber er wollte keinen Anschluss, hatte ihn nicht gesucht und wollte ihn auch nicht annehmen, wenn er zufällig jemandem begegnete. Er wollte nichts mehr verlieren, also legte er sich auch nichts mehr zu und ging keine Verbindungen mehr ein. Es knackte im Unterholz, zwei der Schatten hatten sich gerührt, sie waren unruhig geworden, und sie fühlten sich von ihm, dem Feuer und dem Fisch angezogen. Er wartete. Der Geruch des gebratenen Fisches lag verführerisch in der Luft, und das Feuer war wie ein Magnet in dieser kühlen Nacht. Die zwei Schatten haderten, schnupperten, haderten wieder. Dann kamen sie heraus und traten zu ihm ans Feuer. Etwas in ihm rührte sich, als er in das Gesicht eines kleinen Mädchens sah. Eine vielleicht Fünfzehnjährige stand neben ihr.
„Die Kleine hier hat so furchtbaren Hunger.“
„Der Fisch ist groß genug, bedient euch“, antwortete er und unterdrückte die Erinnerung, die in ihm aufsteigen wollte. Die Ältere nahm ein Stück Fisch vom Feuer und gab es der Kleinen.
„Vielen Dank“, sagte sie und drehte sich um, unschlüssig, doch dann gingen sie. Kurz bevor sie wieder im Wald verschwanden hielt er sie auf.
„Ihr seid zu laut. Diese Welt ist gefährlich. Ich hätte euch leicht töten können.“
„Haben Sie aber nicht“, sagte die Ältere. „Sie sind ein guter Mensch.“
Seine Erinnerungen wurden zu klaren Bildern, und das wollte er nicht.
„Setzt euch“, sagte er. „Nimm dir was zu essen, es bringt der Kleinen nichts, wenn du nicht auf sie aufpassen kannst, weil du vor Hunger umkippst. Und sag deinem Freund er soll rauskommen.“
Das Mädchen hielt inne.
„Wir sind nur zu zweit“, sagte es.
„Junge, ich weiß, dass du da bist“, rief er dem dritten Schatten hinter den Bäumen zu. Schüchtern kam ein junger Mann hervor und trat in das Licht des Feuers.
Er trug rote Schuhe, eine Mode kurz vor dem Ende damals.
„Seid ihr alleine unterwegs?“
„Wir suchen unsere Gruppe. Wir wurden bei einem Überfall von unseren Leuten getrennt“, sagte der junge Mann. „Sind Sie alleine unterwegs?“
„Ihr könnt den Fisch haben“, sagte er, stand auf und ging.

Zwei Tage später entdeckte er ein Reh auf einer Lichtung. Es sah ihn an. Einfach so. Es stand da, sah ihn an und äste dann weiter. Er setzte sich auf einen Stein und holte einen Apfel aus seiner Tasche. Selbst das Geräusch, das sein Biss in den Apfel verursachte, schreckte das Tier nicht auf. Er hielt dem Reh den Apfel hin. Es lief auf ihn zu, ruhig und neugierig. Lichtflecken auf dem Boden und auf dem Rücken des Rehs, ein Moment des Friedens. Dann der Schuss. Er sprang in Deckung und verharrte. Schritte kamen näher, er hörte, wie das Reh gepackt und über den Boden gezogen wurde. Er folgte der Blutspur und versteckte sich im Unterholz, als das Reh unter einem Baum unweit eines Hauses abgelegt wurde. Ein Mann, glatzköpfig, in Soldatenkleidung und stierartig in seinen Bewegungen und seiner Statur, band ein Seil um die Hinterbeine des Rehs und zog es an einem Ast des Baumes hoch. Dann stellte er einen Eimer darunter und schnitt es auf. Jeder Handgriff war ruhig und geübt, aber dennoch angespannt. Ungläubig sah er zu, wie der Stiermann mit blutverschmierter Hand ein auf einem Tisch stehendes Grammofon ankurbelte und sich die Töne eines Requiems über die Lichtung verbreiteten. Dann ein Innehalten.
„Soldat, ich weiß, dass du da bist“, rief er und zerteilte weiter das Reh. „Ich teile mit dir, komm raus.“
Er kam aus seinem Versteck heraus, zwischen zwei Gefühlen schwankend. Hier stand einer vor ihm, der ihm ebenbürtig war. Ein Soldat wie er. Doch hier stand auch einer, der sich dem Wahnsinn dieser Tage hingegeben hatte, denn als er bei dem Stiermann ankam, entdeckte er eine Leiche neben dem Baum, aufgeschnitten wie das Reh. Er erkannte den jungen Mann an den roten Schuhen. „Ich nehme an, mit dem hier hast du nicht geteilt.“
„Der wollte mich gestern töten, aber ich kam ihm zuvor. Sein Blut ist schwach.“
„Sein Blut?“
„Blut, Soldat, Blut macht uns stark. Das Blut unserer Feinde. Es überträgt die Stärken unserer Gegner.“ Der Stiermann nahm eine Schale, tauchte sie in den Eimer unter dem Reh und trank das Blut des Tieres. Dann tauchte er seinen Daumen hinein und zog eine Spur aus Blut vom Haaransatz bis zu dem Punkt zwischen seinen Augen. „Das eines Menschen schmeckt anders“, sagte er.
„Das Reh war aber nicht dein Feind.“
„Nein, aber das Reh macht mich rein von meinen Sünden.“
„War es eine Sünde, den da zu töten?“ Er zeigte auf die Leiche des jungen Mannes.
„Ist heute nicht alles eine Sünde? Ist nicht diese Welt eine Sünde? Wir sind eine Sünde, Soldat. Du weißt erst, was Reinheit bedeutet, wenn du gesündigt hast.“ Der Stiermann hatte die Schale neben das Grammophon gestellt. „Willst du etwas sehen, was wirklich rein ist?“
Er wusste, was der Stiermann ihm zeigen würde, also war er vorbereitet. Er wusste auch, dass sein Gegner nur mit einem Messer bewaffnet war, also legte er seine Schusswaffen ab. Er war fair.
Als er das Haus betrat und die Mädchen dort sitzen sah, beide mit einer Kette am Fußgelenk, reagierte er sofort. Doch der Stiermann war schnell und traf ihn an der Schulter und am Oberschenkel, aber nichts Wesentliches wurde zerschnitten. Als sich das Messer seines Gegners in seinem Oberschenkel verhakte, zog er das andere Bein in die Höhe und brach ihm den Arm. Das Messer zog er sich aus dem Schenkel, drehte es um und ging nun mit zwei Messern auf seinen Gegner los. Er stürzte sich auf ihn und brachte ihn zu Boden. Auf ihm sitzend hielt er ihm eines der Messer an die Kehle, sein Gegner drückte dagegen – minutenlang, so schien es ihm.
Sie rückten nicht voneinander ab, keiner bezwang den anderen. Auf einmal lächelte sein Gegner. „Du hast mich erlöst“, flüsterte er und ließ los.
Das Messer schnitt in die Kehle, er sah auf den Stiermann nieder und dachte an das Reh.
Der Stiermann griff sich langsam an die Kehle. Er wusste, was sein Gegner vorhatte, aber er konnte nichts tun. Er sah auf ihn nieder, sah, wie Schweiß von seinem Gesicht tropfte und ließ geschehen, dass der Stiermann ihm eine Spur aus Blut über die Stirn zog, vom Haaransatz zu dem Punkt zwischen den Augen.
Er sackte auf dem toten Körper zusammen und weinte. Danach rannte er. Einfach nur weg. In einem Fluss wusch er sich das Blut aus dem Gesicht, doch dann spürte er es am ganzen Körper und sprang in den Fluss. Er wälzte seinen Körper über die Steine, nahm Sand und Kies und kratzte sich damit den Körper auf. Er hielt inne, als er die beiden Mädchen am Ufer stehen sah. Die Ältere hielt die Kleine beschützend hinter sich. Langsam ging sie zu seinen Kleidern, hob sie auf und hielt sie ihm entgegen.
Am Abend grub er ein Grab.
„Sein Name war Tom“, sagte das kleine Mädchen und so setzte er noch ein Kreuz darauf. Der Schnitt, den er sich an diesem Abend am Feuer in den Arm zufügte, war tief.

Es dauerte zweieinhalb Tage. Er wusste, wohin er die Mädchen bringen musste, denn er war an ihrem Lager vorbei gekommen. Das kleine Mädchen trug er über lange Strecken auf dem Rücken. Er setzte es oben auf seinen Rucksack, so dass es ihm im Nacken saß. Es legte die Arme um seinen Kopf und die Hände auf seine Stirn. Manchmal schlief es ein, den kleinen Kopf auf den seinen gelegt.

„Bleiben Sie doch bei uns, zumindest diese Nacht“, sagte der Anführer der Gruppe, als er die Kinder dort ablieferte. „Essen Sie wenigstens mit uns.“

Abends machten sie ein Feuer in der Mitte ihrer Häuser.
„Hatten Sie das Fieber?“, wurde er gefragt.
„Ja. Ich bin immun.“
„Seit wann sind sie alleine unterwegs?“
Er mochte die Frage nicht. Und weil er nicht antwortete, sprang jemand aus der Gruppe ein und verteilte den Alkohol.
Er schlief unruhig in dieser Nacht. Er wollte keine Menschen mehr um sich haben, er hatte verlernt, mehr als drei Sätze hintereinander zu sprechen. Am nächsten Tag packte er seine Sachen und wollte sich auf den Weg machen. Er war schon im Wald, als er das kleine Mädchen hinter sich hörte.
„Gehst du?“
„Ja.“
„Wie heißt denn du eigentlich?“
Wann hatte er das letzte Mal seinen Namen gehört? Hier in dieser Gruppe hörte er viele Namen. Diese Menschen haben Namen, dachte er. Wo ist mein Name? Habe ich noch einen?
„Hab ich vergessen“, sagte er.
„Hast du nicht!“, sagte das Mädchen. „Ich heiße Anna, und du hast auch einen Namen. Niemand vergisst seinen Namen!“
„Ich schon“, murrte er und sagte dann doch: „Mein Name ist Oliver.“
Das Mädchen sah ihn neugierig an und lächelte. Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck und es flüsterte: „Oliver!“
Er drehte sich um. Ein paar Wölfe standen im Wald und sahen ihn und Mädchen an.
„Oliver?“
„Ruhig.“
Einer der Wölfe bewegte sich auf sie zu, kam so nah, dass er ihn hätte berühren können. Dann drehte das große Tier sich um, und die Wölfe verschwanden zwischen den Bäumen.
Er nahm das Mädchen bei der Hand, das auf Olivers Arm blickte und mit dem Finger vorsichtig über die Schnitte fuhr, ehe es zu ihm aufsah.