Susanne arbeitet als Ghostwriterin und übernimmt nur widerwillig den Auftrag, eine geschönte Autobiografie zu schreiben. Auf dem Weg nach Italien gerät sie in den Alpen in ein Unwetter und strandet in einem verlassenen Dorf mit Namen Vogelweh, das nur von zwei Menschen bewohnt wird. Erst verbleibt sie auf Grund des Wetters unfreiwillig, doch dann werden aus Tagen Wochen und aus Wochen Monate, in denen Susanne unbemerkt aus ihrem bisherigen Leben entschwindet und sich dem Rhythmus hingibt, den dieser seltsame Ort umweht und in dem das Ehepaar Uta und Andrin im Einklang mit der Natur leben.
Freiheit durch Achtsamkeit
Geradezu paradiesisch wachsen an diesem Ort die Gemüsesorten, das Obst und die Kräuter, aus denen Andrin die herrlichsten Mahlzeiten zaubert, und das Wasser schmeckt so klar, dass es Susanne den Kopf vernebelt. Denn obwohl sie sicher ist, nur Wasser zu trinken, hat sie doch das Gefühl, das Wasser habe eine lösende Wirkung auf sie. Als sie beginnt, mit Andrin eines der verlassenen Häuser zu renovieren, erlebt sie eine Verwandlung: aus dem Kopfmenschen Susanne wird ein ausgeglichener, fühlender, sich dem Rhythmus des Lebens hingebender Mensch. Und weil es ihr in diesem seltsamen Dorf so gut geht, hinterfragt sie nicht, warum die Natur hier so verschwenderisch wächst, was Andrin in der Nacht in seinem Büro macht oder warum das Dorf verlassen ist. Sie akzeptiert die äußerlichen wie inneren Grenzen, indem sie akzeptiert, dass die Fragen ihren Geist kaum beschäftigen und das Betreten der anderen Seite des Dorfes nicht gestattet ist, da dort auf Grund der herabstürzenden Steinfelsen Lebensgefahr herrscht. Diese geistigen und örtlichen Grenzen geben ihr die Freiheit, jeden Tag mit neuen Augen zu erleben und sich allem mit allen Sinnen hinzugeben. Sie lebt absolut im Hier und jetzt ohne zu werten.
Das Paradies schwankt
Für eine gewisse Zeit hat der Roman auch mich entschleunigt so, wie es auch der Protagonistin Susanne geschieht. Altenschäfer nimmt sich Zeit und beschreibt das Zubereiten der Mahlzeiten, das Renovieren, die Körperliche Arbeit sehr genau und in kleinsten Schritten. Doch irgendwann stellte ich mir als Leserin Fragen, die sich die Protagonistin nicht stellt, denn statt die Geheimnisse des Dorfes zu hinterfragen, nimmt sie alles einfach hin. Auch als Uta ihren Mann Andrin bremst, über die Vergangenheit des Dorfes zu viel zu verraten, bleibt man nur mit der Information zurück, dass es sich um ein militärisches Sperrgebiet handelt, in dem die Steine ein mysteriöses Eigenleben führen.
Der Ort als Spiegel der Seele
Ab einem gewissen Moment kam mir der Gedanke, dass wir uns nicht in der Realität befinden und Susanne nicht nur aus der Zeit, sondern vielmehr aus der Realität gefallen ist. Gibt es dieses Dorf wirklich? Wo kommen manche Nahrungsmittel her, die Andrin auftischt und die augenscheinlich nicht im Dorf auffindbar sind, und was hat es mit dieser einen Szene in der Biografie zu tun, die Susanne versucht zu schreiben und über deren bloßes Durchspielen in ihren Gedanken sie nicht weiterkommt? Sind wir wirklich in der Realität oder handelt es sich hier um eine Geschichte, die in Susanne geschieht?
Am Ende unbefriedigend
Diese Fragen sind spannend, auch wenn sie recht spät erst im Buch auftauchen. Ein Buch, das die Kraft hat, die Lesenden zu entschleunigen und sie einlädt, dem Genuss zu frönen. Leider wird man am Ende mit den Fragen allein zurückgelassen, denn Susanne wird unversehens wieder in der Realität ausgesetzt, ohne selbst verstanden zu haben, was mit ihr geschehen ist. Das ist sehr schade, denn das Buch hätte großes Potenzial für eine sehr gute und stimmige Geschichte gehabt.
Vielleicht liegt es daran, dass es sich hier um ein Debüt handelt, was auch an handwerklich nicht ganz ausgereiften Stellen ersichtlich wird. So gibt es mitten im Buch einen Perspektivwechsel, der durch nichts zu erklären und auch inhaltlich ohne Sinn ist.
Ich hoffe, die Autorin wird weiter veröffentlichen, denn sie hat großes Potenzial. In einer Welt, in der wir durch die Medien nur noch von einer Schreckensnachricht zu den nächsten Horrorbildern getrieben werden, ist ihr Roman „Andrin“ eine wundervolle Einladung dazu, inne zu halten, zu entschleunigen und zu genießen. Das Dorf Vogelweh ist nicht irgendwo in den Alpen, es ist in uns.
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