„Die Einsamkeit der Seevögel“ von Gorhil Gabrielsen nimmt die Leser mitten im Winter mit nach Finnmark an die Küste Norwegens.  Fernab jeglicher Zivilisation und von Schnee, Eis und heftigen Stürmen umgeben, will die namenlose Ich-Erzählerin dort die Auswirkungen des Klimawandels anhand der Population von Seevögeln nachweisen. Doch schnell wird klar, dass es hier nicht um das Ankommen der Seevögel geht, das dem Buch seinen Titel „Ankomst“ (Ankunft) verleiht, denn das Buch ist eine Innenschau einer Frau, die aus der Beziehungshölle mit einem gewalttätigen Mann in die Eishölle geflohen ist, um sich endlich selbst zu finden und bei sich anzukommen.

Zurückgeworfen auf sich selbst und ohne menschlichen Kontakt beginnt die Ich-Erzählerin, sich nicht nur mit ihrer eigenen Vergangenheit zu beschäftigen, sondern auch mit der von Olaf und Borghild, die hier vor 150 Jahren lebten. Gorhil Gabrielsen schafft es sprachlich und inhaltlich sicher, zwischen der Vergangenheit der Protagonistin, ihrer Gegenwart in der Schneehölle und der Vergangenheit von Olaf und Borghild zu wechseln und alle drei Ebenen miteinander zu verbinden.

Das Besondere an diesem Buch ist jedoch nicht der Inhalt der Geschichte, sondern die Art und Weise, wie sie erzählt wird. Der Roman besticht durch eine einzigartige Herangehensweise an die Darstellung von Lebenserfahrungen, indem er die Natur und die wissenschaftliche Arbeit als Spiegel der Seele einer Frau und ihrer Vergangenheit einsetzt. Durch die Beschreibung ihrer Vergangenheit in einer kalten und distanzierten Art und Weise entsteht eine Emotionslosigkeit, die es den Lesenden ermöglicht, die Handlung objektiv zu betrachten und der unzuverlässigen Erzählung der Protagonistin zu folgen.

Statt sich auf dramatische Schilderungen zu verlassen, nutzt Gabrielsen eindrücklich die Natur und die wissenschaftliche Arbeit als Metaphern für die Innenwelt ihrer Hauptfigur. Die raue See und der einsame Himmel werden zu Allegorien für ihre inneren Kämpfe und Sehnsüchte, die Kälte der Wissenschaft wird zum Schutzschild gegen die emotionalen Herausforderungen ihrer Vergangenheit.

Das Zusammenspiel von Natur und Innenschau schafft eine einzigartige Atmosphäre, die mir sehr gut gefallen hat. Ich mag es gern, sehr nah an den Protagonisten einer Geschichte zu sein. Sprachlich hat mir der Roman richtig gut gefallen, denn die Worte werden hier sehr klar und meisterhaft eingesetzt und machen „Die Einsamkeit der Seevögel“ zu einem eindrücklichen Roman, der sich durch seine unkonventionelle Herangehensweise an die emotionale Erzählung auszeichnet.

Achtung Spoiler: Das Ende hat mich extrem überrascht. Ich habe mir den Roman als Hörbuch angehört und hatte die Laufzeit nicht im Blick. Dementsprechend kam das sehr abrupte Ende doch sehr überraschend. Allerdings hat es mir – nach ein paar Minuten der Überlegung – richtig gut gefallen. Am Ende schafft es die Ich-Erzählerin, sich von ihrer Vergangenheit zu lösen. Auch dies wird nicht auf einer Gefühlsebene erzählt, sondern anhand eines Vorgangs, den die Protagonistin unternimmt. Nachdem sie eine Erkältung durchlitten und sich mehrere Tage nicht mehr um ihren Körper gekümmert hat, sammelt sie Schnee, erwärmt ihn durch ihren Holzofen und wäscht sich den Schmutz vom Körper. Sie reibt sich die Vergangenheit von Körper und Seele und vergleicht sich mit der Natur, in der Schnee und Eis geschmolzen sind und das Grün hervorkommt. Am Ende klopft es an ihrer Tür, doch es ist vollkommen egal, wer dort ankommt und wir erfahren es auch nicht. Mit dem letzten Wort des Romans öffnet sich die Protagonistin der Welt, in dem sie sagt „Herein“ und sich damit allem stellt, was in ihrem Leben noch geschehen mag.