„Ist das überhaupt erlaubt?“, fragte Lina und betrachtete die Kamera. „Immerhin bin ich deine Tochter. Darf man die eigene Tochter als Versuchskaninchen benutzen?“
„Sehen wir es als ein kleines Experiment“, antwortete Santos und setzte sich vor Lina. „Ich möchte, dass du mir dein bisheriges Leben schilderst.“
„Wozu? Du kennst mein Leben, Diego, du hast mich adoptiert.“
„Trotzdem.“
„Also gut. Ich wurde geboren am siebzehnten Mai 78. Ich hatte einen Tumor an der Wirbelsäule, der erst nach mehreren Jahren durch eine bis heute sensationelle Operation entfernt werden konnte, nämlich von einem gewissen Dr. Diego Santos, der mich später bei sich aufnahm und adoptierte. Ich bin Studentin der Astrophysik, bin seit ein paar Wochen fröhlicher Single und ich habe das Glück, von einem Mann und seiner Frau adoptiert worden zu sein, die mir ein unglaublich gutes Leben ermöglichen konnten.“ Lina sah Santos an. „Gut so?“
„Kannst du dich an dein Leben vor der Operation erinnern?“
„Nein. Wie alt war ich da? Drei? Daran kann ich mich nicht erinnern. Auch nicht an meine Eltern. Ich sehe noch das Krankenhaus, in dem ich nach der Operation lange bleiben musste, und ich kann mich erinnern, wie ich das erste Mal mein Zimmer bei euch gesehen habe.“
Lina sah Santos an. Sie kannte ihn nun schon seit so vielen Jahren und hatte immer eine Vaterfigur in ihm gesehen. Nun war er dreiundachtzig Jahre, ein alter Mann, ein Spezialist der Kardiologie, der immer noch weiter forschte in seinem eigenen Institut, von der Fachwelt vergessen, seit fünf Jahren verwitwet. Niemand schien sich für das zu interessieren, was er erforschte. Irgendeine Grundlagenforschung, die ins Leere lief, eine Idee, die nur in seinem Kopf Fuß gefasst hatte und vielleicht noch in den Köpfen von seinem Assistenten Thomas und zweier weiterer Mitarbeiter.
„Diego, was tust du eigentlich den ganzen Tag hier in deinem Institut? Es sieht aus wie ein Gefängnis, eine geheime Militärbasis oder sonst was. Du warst einmal der talentierteste Kardiologe der Welt. Warum hast du das aufgegeben?“
Diego stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Er tippte etwas auf dem Tablet, verharrte und sah Lina an.
„Du weißt, dass mein Spezialgebiet die Kryonik ist, und dass sich hier in meinem Institut 643 Patienten befinden, alle im Kälteschlaf.“
„Ja, ich weiß.“ Lina drehte sich auf dem Stuhl hin und her.
„Aber du weißt nicht, dass wir in den letzten Jahren 56 Menschen aus ihrem Kälteschlaf aufgeweckt haben.“
Lina starrte Diego an und wusste nicht, wen sie vor sich sehen sollte. Die Vaterfigur oder den Wissenschaftler. „56 Menschen? Aber wie? Habt ihr einen Durchbruch geschafft? Was ist mit dem Gesetz? Das Gesetz verbietet es, Menschen aufzuwecken.“
Santos schaute auf seine Hände. „Die Regierung hat vor zehn Jahren unserem Antrag stattgegeben und uns erlaubt, Patienten aus dem Kälteschlaf zu holen. Aber es hat nicht so funktioniert, wie wir es uns erhofft hatten. Von den 56 Patienten konnten wir vierunddreißig wiederbeleben, aber ein Großteil von ihnen starb schon in den ersten Stunden oder Tagen. Die, die länger lebten, kamen nicht mit dem zurecht, was mit ihnen geschehen war. Sie erwachten viele Jahre oder Jahrzehnte, nachdem man sie in den Kälteschlaf gebracht hatte, und wussten nicht mehr, wer sie waren. Sie lebten und waren doch vor Jahrzehnten gestorben. Die Regierung hat nach zehn Jahren das gesamte Kryonikprogramm gestoppt. Wir dürfen keine weiteren Menschen mehr aus dem Kälteschlaf holen.“
„Und was passiert mit denen, die noch hier sind?“
„Es gibt noch eine einzige Möglichkeit, sagte Santos. Die Raumstation. Aber dafür muss ich die Ethikkommission überzeugen, dass es doch möglich ist.“ Santos stand auf, nahm das Tablet und reichte es Lina. Dann ging er hinaus. Lina sah auf den Bildschirm, auf dem ein Film ablief, den Santos für sie gestartet hatte.
Lina ging hinaus auf das Dach. Santos auf einem alten Stuhl und sah über die Wüste. Lina wusste nicht, wohin mit sich, sie wollte wieder gehen, aber sie wollte auch hier im Licht des Sonnenuntergangs bleiben. Sie setzte sich an die Dachkante, ließ die Beine hinunter hängen und war still, während sie über die Wüste und in den Himmel hinauf blickte. Um diese Uhrzeit konnte man die Raumstation gut sehen, wie sie da oben schwebte, groß und ruhig.
„Ich habe über all die Jahre hinweg nie den richtigen Moment gefunden, mit dir darüber zu sprechen. Und auch jetzt wusste ich nicht, wie ich es dir sagen soll, deshalb habe ich dir den Film gezeigt“, sagte Santos.
„Ich bin also ein Experiment?“, fragte sie. „Ich bin nicht die Einzige?“
„Du bist die Erste. Du warst nach all den Jahren die Patientin von allen, bei der es am ehesten möglich schien. Viele andere Patienten mussten wir aufgeben, bevor wir sie überhaupt wiederbeleben konnten. Weil wir nicht wussten, wie du dich entwickeln würdest, haben wir fünfzehn Jahre gewartet und dich beobachtet. Danach hat uns die Regierung erlaubt, weitere Patienten aus dem Schlaf zu holen. Es waren die 56.“
„Und was willst du nun von mir? Dass ich als Vorzeigepatientin deine Forschung unterstütze? Seht her, sie lebt, sie ist normal, sie studiert sogar? Wie viele gibt es?“
„Es haben neun Menschen bis heute überlebt. Sie leben unter ständiger Beobachtung. Manche von ihnen führen ein einigermaßen normales Leben, aber es ist schwierig.“
Lina stand auf und ging zu Santos herüber. „Wenn du wusstest, dass die Menschen damit nicht umgehen können, warum hast du es mir jetzt gesagt?“
Santos sah zu ihr hinauf, mit einem Schmerz in seinen Augen. „Ich will sie retten. Die restlichen von ihnen. Ich will sie auf die Raumstation bringen. Ich bin nicht bereit, sie aufzugeben, ich will sie aus dem Schlaf befreien. Du bist der Beweis, dass es möglich ist.“
Das „Falling down“ hatte schon vor zwei Stunden den Einlass gestoppt. Regen rann an den zweihundertelf Stockwerken des Hochhauses herunter und über die riesigen Werbebildschirme. Sie war heute für die Bar im Foyer, den „Ankunftsraum“ eingeteilt. Hier kam das Partyvolk aus dem zweihundertneunten Stockwerk an, purzelte aus dem Aufzug heraus, nachdem es mit irrsinniger Geschwindigkeit und bei lauter Musik die die Stockwerke herunter gerast war.
Lina war eigen. Ihre Kolleginnen nannten sie „unsere Naturschönheit“, und sie meinten es ernst. Lina sah jung aus, unverbraucht und, da sie sich nicht schminkte, natürlich. Sie zog enge Kleider an, denn es brachte Trinkgeld. Wie immer wies sie die Einladungen ab, freundlich, aber bestimmt. Der Aufzug kam an, die vor Geschwindigkeit, Adrenalin und Alkohol trunkene Menge strömte lärmend heraus. Aber Lina hörte sie nicht. Sie hörte die Stimmen, die aus dem Bildschirm zu ihr gesprochen hatten.
Erst als jemand ihren Namen rief, sah sie das Blut an ihrer Hand. Beim Spülen musste sie eines der Gläser zerschlagen haben. Sie wickelte ein Handtuch um ihre Hand und setzte sich etwas abseits hin, beobachtete den Aufzug und die tobende Menge, die lange Schlange vor dem Gebäude und den Regen. Als sie an das Fenster ging, versuchte sie, in den Himmel zu blicken, aber da war kein Platz für Himmel.
„Kann ich Ihnen helfen?“ Neben Lina war ein Mann aufgetaucht. Eine Stimme wie rauchiges Holz, die fragte: „Sind Sie verletzt?“
Lina war nie die Frau für eine Nacht gewesen. Sie war beständig, stetig, geradeaus. Der Mann holte ein frisches Tuch und umwickelte ihre Hand damit. Dann bestellte er etwas Starkes, dessen Schwere sie wärmte. Als er sie nach Hause fuhr, stieg er mit aus dem Wagen, legte ihr sein Jackett um die Schultern, brachte sie durch den Innenhof des Appartementkomplexes zu ihrer Haustür, legte die Hände an die Mauer und umschloss Lina, ohne sie zu berühren.
Sie sagte „Ja“.
In ihrer Wohnung zog er sie aus, nicht langsam, nicht schnell, sondern ruhig und gekonnt. Es gab weder einen Grund zu einer überhitzten Eile noch zu romantisierender, an Langweile grenzenden Zärtlichkeit. Es wurde kein neues Land entdeckt, sondern gegeben und genommen, so, wie es gut war. Als er ihr das Tuch von der Hand nahm und ihre Wunde wusch, fragte er nicht nach ihren Narben. Er hatte es nicht am Anfang getan und er tat er jetzt nicht.
Den nächsten Tag in der Universität erlebte Lina wie durch eine Glaswand. Keine Stimme, kein Geruch, keine Information erreichte sie. Das Einzige, das sie sah, waren die beiden Menschen in dem Film. Am Abend ging sie ins „Falling Down“, zog sich ein enges Kleid an und fuhr hinauf in die VIP-Bar, wo sie heute eingeteilt war. Direkt nach dem Ende ihrer Schicht nahm sie das erste Angebot an, weil er ein netter Kerl war, und ging mit ihm in seine Wohnung. Er erschrak, als er ihre Narben sah. Mitleid breitete sich über das Laken und sie verschwand in die Nacht, kehrte zurück zum „Falling Down“, tanzte und trank, fuhr im Aufzug und ging gleich mit dem nächsten mit. Es war schnell, in einer dunklen Ecke und sie behielt die Kleider an. Als der nächste Mann sie fragte, zog sie ihr Shirt am Hals herunter. „Willst du immer noch?“
Bald fand sie heraus, dass es Männer gab, die es wegen der Narben taten. Das war es, was sie in sich selber sah. Eine riesige Wunde. Sie rief Santos an. „Ich will die anderen sehen.“
Tage später meldete sich eine leise Stimme bei ihr. Sein Name sei Aaron, er sei wie sie. Sie trafen sich in einem Park, es war kühl und sie trug einen Schal. Aaron kam durch die Allee gelaufen, einen kleinen Hund bei sich. „Der findet mich normal“, sagte er.
„Findest du dich normal?“
Aaron sah auf den Boden, die Hände in den Taschen, kurz auflachend, aber ohne Bitterkeit. „Wir sind nicht normal, Lina. Wir sind wiederbelebte Tote, medizinische Experimente.“ Er ließ seinen Blick durch den Park schweifen. „Aber ich versuche mich als Mensch.“
„Und? Gelingt es dir?“
„Ich finde, es gelingt mir ganz gut.“ Wieder wanderte sein Blick in die Weite. „Viele andere haben es nicht geschafft. Sie leben mit den Erinnerungen an ihr früheres Leben, aber davon gibt es nichts und niemanden mehr.“
Lina zog den Schal herunter.
„Was sagen die anderen zu dir, wenn sie das hier sehen?“
„Warum hast du die am Hals?“
Lina ließ den Schal wieder los. „Ich bin ein besonderes Experiment. Sie haben mir den Kopf halb abgeschnitten, um einen Tumor zu entfernen.“
„Ich habe die Narben nur an den Oberschenkeln, wie wir alle. Lina, es liegt an dir. Wer von uns überlebt hat, der wollte es so. Du hast Glück, denn du hast keine Erinnerungen an dein früheres Leben, weil du so jung warst.“
Santos erschrak, als er Lina sah. Dünnhäutig, angegriffen und verletzt. „Danke, dass du gekommen bist.“
„Wie wird es gemacht? Ich will es wissen.“
Santos wusste, er konnte nicht ausweichen, also erklärte er ihr alles Schritt für Schritt. Dass sie am siebten Mai zwanzigzwölf geboren wurde und sich ein Tumor an ihrer Halswirbelsäule gebildet hatte. Dass es keine Überlebenschance für sie gegeben hatte. In der Hoffnung auf eine winzige Chance hatten ihre Eltern sie deshalb der Kryonik übergeben. Zwanzigfünfzehn ließen sie sie sterben, sie gaben ihr Medikamente, so dass sie einfach einschlief. Als der Arzt sie für tot erklärte, legten sie sie in ein Bett aus Eis und setzten einen Luftröhrenschnitt, um Sauerstoff in die Lunge zu pumpen. Dann schnitten sie ihr beide Oberschenkel auf, verbanden die freiliegenden Arterien mit Schläuchen und ließen ihr Blut ab. Millimeter für Millimeter ersetzten sie es durch Frostschutzmittel, kühlten ihren Körper herunter und legten ihn bei einer Temperatur von minus hundertsechsundneunzig Grad in einen Tank, gefüllt mit flüssigem Stickstoff. „Man nennt das Verglasung“, sagte Santos. „Durch das Frostschutzmittel bilden sich keine Eiskristalle, denn die würden den Körper irreparabel schädigen. Du warst die Erste damals, bei der ein neues Mittel getestet wurde. Alle, die vor dir in den Kälteschlaf versetzt wurden, hatten keine Chance. Es funktionierte nicht.“
Dreiundsechzig Jahre hatte die Wissenschaft gewartet, es hatte Kriege gegeben und eine riesige Völkerwanderung. 2078, hatte man begonnen, die ersten Menschen aufzutauen.
„Ab hier kennst du die Geschichte, Lina. Ich habe dich aus dem Schlaf geholt, dir den Tumor von deiner oberen Wirbelsäule entfernt und dich bei mir aufgenommen. Ich habe dir erzählt, deine Eltern hätten dich weggegeben. Du bist aufgewachsen wie ein völlig normales Kind, und so begannen wir nach fünfzehn Jahren, weitere sechsundfünfzig Menschen aus dem Schlaf zu holen.“
Lina sah an eine Pinnwand, an der unzählige Zeitungsartikel hingen. Sie erklärten, dass das Auftauen von Menschen ab sofort verboten sei, sie las über die Wiederbelebten, die nicht zurechtkamen. Die Kryonik passte nicht mehr zu den ethischen Überzeugungen der Gesellschaft, sie war nun ein verbotenes Experiment an Menschen.
„Die Raumstation ist Niemandsland. Sie ist rein für die Wissenschaft da. Wir könnten sie alle dorthin bringen.“
Santos sah ihr nicht nach, als Lina den Raum verließ.
Er stand vor ihr am Tresen und wollte wissen, wie es ihrer Hand ginge. Sie nahm ihn mit nach Hause und dieses Mal war es etwas Ernstes. „Du hast dich verändert“, sagte er. Als er eingeschlafen war, ging sie in die Küche, setzte sich in eine Decke gewickelt an den Tisch und sah sich noch einmal den Film an. Ein Mann und eine Frau saßen auf einer Veranda im Sonnenschein, es musste Herbst sein, die Frau hatte ein Bündel aus bunten Blättern in der Hand. Sie sahen in die Kamera, mit einem Schmerz in ihren Gesichtern und in ihren Stimmen. Ihr Name sei Lina, sagten sie. Sie sei ein wundervolles, kleines Mädchen. Sie würde die Farbe Grün lieben und sie sei immer fröhlich. Vor allem im Herbst, wenn sich die Blätter verfärbten, sei sie fröhlich gewesen und nie traurig, weil ihr geliebtes Grün verschwand. Immer habe sie gesagt, es verschwände, um wieder zu kommen. Sie sei ein kluges Kind. Sie hätten alles versucht, aber es gab keine Möglichkeit mehr. Jetzt, da sie diesen Film sehen könnte, sei sie gerettet. „Wir lieben dich“, sagten sie, „wir werden dich immer lieben.“
Seine rauchige Stimme holte sie nach der langen Nacht zurück. Er machte Kaffee und bemerkte ihre Traurigkeit. „Mein Körper war aus Glas“, sagte sie. „Sie haben mich zerbrechlich gemacht.“
Er streichelte ihren Rücken während sie am Zaun standen und über das Feld blickten, über das die Stickstofftanks zum Transporter gerollt wurden. Santos entdeckte sie, und als er an den Zaun kam, war er unsicher. „Es tut mir Leid“, sagte er, „aber ich kann sie nicht einfach aufgeben.“
Der Transporter zog einen langen, roten Schweif in den Abendhimmel, als er sich mit den letzten Glaskörpern und Santos auf den Weg zur Raumstation machte, die ruhig und groß über ihnen schwebte.
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