Ein Meisterwerk der Sprachkraft und Aktualität, dennoch im Schatten des Zeitgeistes

Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“ gilt zweifellos als literarisches Meisterwerk mit einer beeindruckenden Sprachkraft, die mich berührt hat. Leider hat dieser Roman eine zeitlose Relevanz, denn Diskriminierung, egal von welcher Seite sie kommt und an wen sie gerichtet ist, hat nie aufgehört. Harper Lee entführt die Leser*innen in die Tiefen des amerikanischen Südens der 1930er Jahre und beschreibt Themen wie Rassismus, Moral und soziale Gerechtigkeit in einer meisterhaften Art, nämlich durch die Augen von Kindern, allen voran dem Mädchen Scout. Interessant hierbei ist, dass die Geschichte von der erwachsenen Scout in Worte gefasst wird, sie sie aber durch ihre damaligen Kinderaugen erzählt.

Die außergewöhnliche Sprachgewalt, die Lee in ihrem Werk entfaltet, lässt die Atmosphäre der Zeit in einer Art und Weise aufleben, die mich völlig in den Bann der Geschichte gezogen hat. Die Beschreibung von Maycomb, der Kleinstadt, in der die Geschichte spielt, vermittelt dem Leser das Gefühl, selbst durch die staubigen Straßen zu wandeln und die Welt mit Kinderaugen zu sehen. Gerade diese Sichtweise ist es, die den Rassismus umso härter erscheinen lässt, denn die Kinder verstehen ihn nicht. Lees Fähigkeit, die Emotionen und Gedanken der Charaktere einzufangen, schaffte eine Verbindung zwischen mir und der Geschichte, die mich am Ende traurig gestimmt hat, weil die Geschichte zu Ende war.

Dennoch ist „Wer die Nachtigall stört“ nicht unumstritten, insbesondere im Hinblick auf die Darstellung von schwarzen Figuren. In einem Zeitungsartikel las ich, dass schwarze Jugendliche den Roman mit Skepsis zu betrachten, da die schwarzen Charaktere prinzipiell als passive Figuren angelegt sind und der Rassismus durch die Worte „Neger“ und Nigger“ allgegenwärtig ist. Diese Kritik ist absolut berechtigt, sollte aber keinen Schatten auf das Werk werfen. Würde man die Worte aus dem Buch ersetzen, wäre dies eine Verfälschung der Geschichte, der Umstände, wie sie damals geherrscht haben. Muss das Buch heute noch als Unterrichtslektüre auf dem Schulplan stehen? Nein, denn die Darstellung von Rassismus und schwarzen Charakteren in der Literatur hat sich weiterentwickelt. Es ist wichtig zu erkennen, dass das Buch ein Produkt seiner Zeit ist. Es wurde in den 1960er Jahren veröffentlicht, als die Bürgerrechtsbewegung in den USA noch in den Kinderschuhen steckte. Der Blickpunkt der Autorin ist zwangsläufig der einer weißen Person, da dies die vorherrschende Perspektive der Gesellschaft zu jener Zeit war. In der Retrospektive ist die Darstellung schwarzer Charaktere stereotyp und klischeehaft (wobei das auch auf Atticus, dem Vater der Kinder zutrifft), aber wenn man den historischen Kontext berücksichtigt, so ist der Roman trotz dieser Kritikpunkte ein sprachlich wundervolles Buch, das eine wichtige Geschichte erzählt.