Autorin, Dramaturgin, Schreibcoach

Neununddreißig

Sie will das Zimmer nicht betreten und tut es doch jeden Tag. Heimlich, wenn ihr Mann bei der Arbeit ist. Schwierig am Wochenende.

Sie beobachtet ihren Mann, der in den Keller geht, ein schöner, heller Keller mit Drehbänken und Werkzeug an der Wand. Nicht aufgeräumt, sondern ein gemütliches Chaos. Dort sitzt er, formt Dinge aus Holz und lässt die Gedanken schweifen. Gedanken an ein Leben, das nicht so sein wird wie es sein soll.

Das kleine Fahrrad steht noch in der Einfahrt, dort, wo es hingestellt wurde von der jungen Frau, die fragte, ob sie etwas tun könne. Wenn er dort unten ist, geht sie in das Zimmer, die knarrende Treppenstufe betritt sie nur außen, sonst hört er es. Sie holt das Buch hervor mit den Tieren auf dem Bauernhof. Hinter diesem Buch, so hat die Kleine gesagt, sind die Maus und der Elefant im Urlaub gewesen. Sie wird nie einen Tag erleben, an dem sie nicht daran denken muss, dessen ist sie sich sicher.

Die siebte Stufe von unten. Er hört es jedes Mal. Warum sie heimlich das Zimmer betritt, weiß er nicht, aber er akzeptiert ihr Verlangen. Er nimmt ein Holzstück in die Hand, aber alles, was er zustande bringt ist einfach nur irgendetwas, das nicht so aussieht, wie es aussehen sollte. Er schleicht die Treppe hinauf und hört seiner Frau beim Schweigen zu in diesem Zimmer. So kann es nicht sein, denkt er. Er ruft ihre Schwester an, sagt, es könne so nicht weitergehen, es muss eine andere Zukunft geben. Die Schwestern fahren an die See, Wellen beobachten und die Möwen. In dieser Zeit ist er es, der jeden Tag das Zimmer betritt. Er sieht die kleine bunte Schachtel und öffnet sie. Murmeln kullern auf das Bett.

„Es sind neununddreißig“, sagt er. Sie sieht ihn an und versteht nicht, was er ihr sagen will. „Wir werden neununddreißig Dinge tun, die unsere Kleine liebte, und danach werden wir neu anfangen. Du hast neununddreißig Schritte, um loszulassen.“

Wie soll das gehen, will sie wissen. Er nimmt eine Murmel, seine Frau bei der Hand und verlässt mit ihr das Zimmer. Die Stufe knarrt, die Tür geht auf.

Sie beginnen zu schaukeln und er ruft: „Höher, höher!“ Sie sitzen auf der Schaukel, der Blick ist weit. Sie beginnt zu weinen.

Oder ist es ein Lachen?

2 Kommentare

  1. Alice Springorum

    Mein „Murmelspieler“ wäre dieses Jahr 32 Jahre alt geworden..
    An jedem 12.05. im Jahr trage ich eine Murmel mit mir. So hat mich die Geschichte sehr gerührt. 🥰

    • admin

      Ein schönes Ritual, mit dem du deinem Murmelspieler gedenkst. Und es ist gut, dass du dies hier teilst. Zu viele Menschen schweigen über diesen Verlust, der öfter vorkommt, als man denkt. Ich danke dir.

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