Der Tag war klar und kalt an diesem Morgen gegen Ende des Jahres. Ole stieg in den Transporter, einen Kipplader, und fuhr durch das Abbaugebiet in Richtung der Rampe. Anselm stand schon da und wartete. Er war ausgestiegen. Als er Ole ankommen sah, holte er seine Thermoskanne aus dem Fahrerhaus seines Transporters und schenkte seinem Kollegen ein. Ole parkte hinter Anselm, nahm den Kaffee entgegen und sagte mit seiner rauen Stimme: „Ich mag dich.“
„Wir könnten es bis morgen Nachmittag schaffen. Das Wetter ist soweit in Ordnung. Fährst du nach Osten oder Westen?“
„Ich fahre immer dir nach. Ich hänge mich an deine Rücklichter und mache ein Auge zu, damit es sich erholen kann. Mit dem anderen Auge schau ich mir das Bild von Mira an, und morgen Abend werde ich frisch geduscht und wohl duftend zu ihr ins Bett steigen.“
„Warte erst mal ab“, sagte Anselm und lachte. „Noch ist das Wetter in Ordnung, aber wer weiß, was der Tag bringen wird.

Wusste gar nicht, dass du überhaupt gut riechen kannst. Wohnt sie jetzt nicht im Westen der Stadt?“
Ole brummte zustimmend. „Passt gut, dass ich zur Station im Westen fahren muss. Diese Zugfahrt durch die Stadt geht mir immer ziemlich auf die Nerven.“
„Du bist echt gut, Ole. Fährst die ganze Zeit durch das Nichts und hast dann ein Problem mit einer einfachen Fahrt durch die Stadt!“
Ein Signal ertönte und die Fahrer stiegen in ihre Transporter ein. Ole fuhr an Anselms Transporter vorbei an die Spitze. Nach und nach rollten sie die Rampe hinauf, fuhren langsam vorbei an den Gebäuden der Verwaltung, hinter denen sich die Häuser für die Arbeiter befanden. Gebäude mit Toiletten und Duschen, eine große Kantine und direkt daran angrenzend das Freizeithaus. Wer wollte, konnte in einem der Vierbettzimmer schlafen, aber viele hatten sich in ihren Transportern eingerichtet. Dort hatten sie alles, was sie benötigten. Ein fahrendes Zuhause, auf kleinstem Raum eingepfercht, doch der Geist der Fahrer war weit wie die Endlosigkeit. Das war das Bild, das man von ihnen hatte, und sie erfüllten es. Nun fuhren sie durch den Staub des Abbaugebietes die breiter werdende Straße entlang, und als das Nichts begann, entspannten sie sich.
„So Jungs, los geht es in einen wundervollen Tag. Wie wäre es mit ein bisschen Musik auf Kanal A?“ Louis, der Franzose, war einer der wenigen, der Musik dabei hatte. „Dann macht mal eure Öhrchen auf!“, rief er. Er wusste genau, dass die Männer ihn mochten. Er war anders als sie. Ein zierlicher Mann, schnell, lustig und der einzige, der mehr als nur einfach Nudeln kochen konnte. Er ließ den Kommunikationskanal offen und so ertönte in den Kabinen der anderen Fahrer „ABC“ von den Jackson Five, während die Sonne hinter dem von den Transportern aufgewirbeltem Staub langsam aufging.
Stunde um Stunde rollte die Kolonne der Transporter durch das Nichts, vorbei an den Städten, die heute verlassen dalagen und im Lauf der Jahre immer stärker von Staub und Wind zerrieben wurden. Manchmal tauchten in der Ödnis verlorene Häusergruppen auf , die aussahen, als blickten sie den vorbeifahrenden Männer aus blinden Fenstern nach. Ole dachte daran, wie es wohl gewesen war, so zu leben. In einem kleinen Haus mit einem Garten drum herum und einem Apfelbaum, von dem man die Früchte einfach so abpflücken konnte. Es gab Momente, da meinte er, sich an das Grün erinnern zu können. Das freie Grün, nicht das in den Städten, unter Glas eingesperrte. Es war eine Erinnerung, die einfach so heran wehte, und der er nicht nachging. Denn zu der Erinnerung der Farbe gehörte auch eine andere: Die des grellen Lichtes, das so kalt aussah und doch alles verbrannt hatte.

Sie erreichten den Sammelplatz am frühen Abend und bildeten mit ihren Transportern einen Kreis, in dessen Mitte sie „Maître Louis` Reich“ bauten, eine Ansammlung von Kochern und kleinen Feuern, zwischen denen Louis herum wirbelte wie ein wuseliges Tier, das unentwegt redete und Befehle gab. Die Männer schnitten Zutaten klein, tranken, unterhielten sich. Und sie lachten, teilten ihre eigenen Vorräte, Kaffee und Tabak, und manchmal auch Frauen, wenn gerade welche da waren. Es gab Menschen, die außerhalb der Stadt in kleinen Gruppen lebten, und die nicht viele Möglichkeiten hatten, an Geld und Waren zu kommen. Ole kannte eine der Frauen, er hatte sie vor ein paar Wochen mit in seinen Transporter genommen, weil sie an seine Türe geklopft hatte. „Ich habe eine Frau in der Stadt“, hatte er gesagt, und sie hatte geantwortet: „Ich weiß, genau deshalb“. Dann war sie an ihm vorbei geschlüpft und hatte sich auf dem Beifahrersitz zusammengerollt. Ein junges Ding noch, das sofort eingeschlafen war und später mit einem „Danke“ in der Stadt einfach ausgestiegen und verschwunden war.
Ole wusste nicht, wo sie die letzte Nacht verbracht hatte, aber am nächsten Morgen stand sie an der Türe seines Transporters.
„Kannst du mich mitnehmen, ich muss in die Stadt“, fragte sie ihn. Anselm grinste in seine Kaffeetasse. „Unser Ole hier hat eine Frau, weißt du. Aber ich, ich bin noch Single und sehr nett.“
Mit einem Kopfnicken ließ Ole sie in sein Fahrerhaus, und die Kolonne setzte sich in Bewegung.
Sie war still, während die Transporter durch das Nichts fuhren. „Was willst du in der Stadt?“, fragte Ole schließlich.
„Meine Mutter ist krank. Seit Jahren schon. Deshalb lebt sie in der Stadt.“
„Und warum lebst du hier draußen? Das ist doch keine Freiheit für jemanden wie dich.“
„Nä!“ Sie lachte. „Ich mag das nicht. Alles so eng in der Stadt.“
Als einer ihrer Transporter liegen blieb, beschlossen die Männer, während der Reparatur auch noch eine Rast zu machen, anstatt gleich weiter bis zur Stadt zu fahren. So würden sie einfach ein paar Stunden später ankommen, aber das war unerheblich. Als sie sich wieder auf den Weg machten, war es später Nachmittag. Bis zum Abend würden sie es in die Stadt schaffen.
„Bist du verheiratet?“
„So was Altmodisches denkst du von mir?“
„Irgendwie schon“, sagte sie. „Du bist ein Gentleman.“
„Und du bist noch jung, du kannst dir die Männer noch aussuchen. Irgendwann geht das nicht mehr. Wir sind nicht alle so nett hier draußen, Alma.“
„Ja, ich weiß. Du hast dir meinen Namen gemerkt“, stellte sie fest und grinste. Dann setzte sie sich aufrecht hin, um besser aus der Fahrerkabine schauen zu können. „Sieht aber sehr nebelig aus heute.“
Sie sahen zur Stadt, die am Horizont aufgetaucht war.

Maurice trug seinen Frack und den Zylinder auf dem Kopf, dazu den Gehstock mit dem kleinen Knauf. Der Tag hatte kühl und klar begonnen, es war Freitagabend. Er hatte seine Arbeit vor einer halben Stunde begonnen. „Hereinspaziert, hereinspaziert“, rief er ganz in der alten Manier. „Die Show beginnt in einer halben Stunde, Varieté vom Feinsten!“
Er hatte sich den Umgang mit den Gästen von seinem Vorgänger Linus abgeschaut. Ein Mann mit Händen wie die Wurzeln eines alten, verdrehten Baumes, die leicht zitternd auf der Eingangstheke lagen oder die Kasse bedienten. Dort saß er jetzt immer, weil er nicht mehr lange stehen konnte. So hatte man das früher gemacht, erzählte Linus immer. Alles hier war wie früher, denn es zog die Menschen an. Es war die Sehnsucht nach einer guten alten Zeit vor dem grellen Licht, vor der Stunde null, vor dem Beginn des Nichts, dem nur einige Städte an den Küsten entgangen waren. Dort lebte nun ein Großteil der Menschen. Ein Paar kam Arm in Arm die Straße entlang und sah sich die Plakate an.
„Ah“, sagte Maurice und trat zu ihnen, „Sie bewundern unsere Schlangenfrau! Vielleicht die Letzte auf der ganzen Welt! Auf jeden Fall die Einzige in der Stadt. Kommen Sie herein, es lohnt sich!“ Maurice begleitete das Paar noch das Stück zu Linus an die Kasse. „Ich wünsche einen angenehmen Abend!“, rief er ihnen hinterher.
„Guter Abend heute“, krächzte Linus zu ihm herüber, nachdem das Paar im Inneren des Varietés verschwunden war.
Maurice zog sich das Tuch, das er an kühlen Tagen tragen durfte, enger um den Hals und blickte die Straße entlang. Es war ein typischer Freitagabend im Vergnügungsviertel der Stadt. Mit einem Kopfnicken grüßte er seinen Kollegen aus dem zweiten großen Varieté ein paar Häuser weiter. Linus war aus seinem Kassenhäuschen gekommen und sah in den Himmel, der von den Lichtern des Viertels erleuchtet wurde.
„Scheiß Smog“, sagte er. „Die Bude bekommst du heute noch voll, wetten wir?“
Er lachte und wackelte auf seinen alten, krummen Beinen zurück zum Kassenhäuschen, auf das eine Gruppe von Besuchern zusteuerte.
„Guten Abend, guten Abend“, rief er ihnen zu.
Maurice sah wieder die Straße entlang. Der Smog war heute ungewöhnlich dicht.

Mira sortierte die Bücher in die Regale der Nationalbibliothek ein. Heute hatten sie eine neue Lieferung bekommen. Ein Beschaffungsteam hatte eine Bücherei in einer kleinen Stadt gefunden und sie leer geräumt. Es war viel Arbeit gewesen, die Bücher vom Schmutz zu befreien und manche waren gar nicht mehr zu gebrauchen gewesen. Die gesäuberten Bücher lagen nun alle auf einem Tisch vor dem großen Fenster. Miras Kollegin kam gerade mit einer neuen Kiste an. Mira warf einen Blick darauf.
„Schon wieder so eine Science-Fiction-Reihe“, sagte sie.
„Kommt Ole heute zurück?“, fragte ihre Kollegin.
„Ja, ist so geplant, aber das kann man bei ihm nie so genau wissen.“
„Also ich bin froh, mit einem Angestellten zusammen zu sein, und nicht mit einem Transporter, der ständig unterwegs ist.“ Miras Kollegin ging los und sortierte Bücher in ein Regal, Mira folgte ihr mit einem weiteren Stapel.
„Ole kann man nicht hinter einen Schreibtisch setzten. Da würde er eingehen. Irgendwie muss der Mann sich dreckig machen und stinken, sonst fühlt er sich nicht wohl.“
Miras Kollegin sah sie über die Bücher im Regal an. „Soll ich das jetzt heiß finden, oder dich bemitleiden, weil du mit einem Klischee zusammen bist?“ Dann stutzte sie. „Irgendwas stimmt mit meiner Brille nicht.“ Sie setzte ihre Brille ab, hielt sie hoch und begutachtete sie. Dann blickte sie zu Mira und erstarrte.
„Was ist?“, fragte Mira. Sie folgte dem Blick ihrer Kollegin: Der Gang hinter ihr hatte sich mit Smog gefüllt.

Anselm nahm sein Funkgerät in die Hand. „Jungs, seht ihr das? Scheint heute heftig zu sein! Wird Zeit, dass wir nach Hause kommen.“
„Wie wäre es mit ein bisschen Rock and Roll gegen den Scheißsmog?“ Louis durchsuchte seine Musiksammlung nach etwas Passendem.
In Oles Fahrerhaus zog sich Alma die Jacke enger um den Körper. „Das ist seltsam, oder? So stark?“
„Wie wäre es damit?“, fragte Louis und ließ Louis Armstrong „What a wonderful world“ singen. Die Kolonne der Transporter rollte durch das Nichts, das langsam in der Abenddämmerung verschwand, so dass am Horizont die Lichter der Stadt zu sehen waren. Aber sie waren nicht wie sonst in staubiges, rötlich-gelbes Licht gehüllt, sondern schimmerten aus einer grauer Wand.
„He Louis, mach die Musik leiser“, befahl Ole und blickte an Alma vorbei aus dem Fenster.
„Komm schon, du Spielverderber, das ist ein Namensvet…“
„Mach die Scheißmusik leiser!“ Ole blickte weiter aus dem Fenster. „Hat es einen Smogalarm gegeben? Hat jemand was gehört?“ Die Männer verneinten. „Macht eure Lichter aus“, befahl Ole. Als die Kolonne im Dunkeln war, sahen die Männer im Westen der Stadt einen roten Schein.

„Ist dir kalt, Linus? Soll ich dir eine Decke bringen?“ Maurice sah immer noch die Straße entlang, in der sich der Smog verdichtete.
„Nee, nee“, rief Linus und zog eine Decke unter der Theke hervor. „Ein alter, erfahrener Mann wie ich ist vorbereitet. Hast du es denn nicht gehört?“
Maurice hatte es gehört. Es war in den Nachrichten verbreitet worden. Aufgrund der Inversionswetterlage durfte kaum Kohle verbrannt werden, da die Schadstoffe durch die übereinanderliegenden Luftschichten nicht entweichen konnten und wie in einer Glocke über der Stadt gefangen waren. Tatsächlich sah man die ersten Menschen mit Atemschutz auf der Straße, ein Bild, das fast alltäglich geworden war. Nach dem Beginn des Nichts hatte man sich daran gewöhnen müssen mit der Schadstoffbelastung zu leben. Es gab kaum erneuerbare Energien, so dass die Menschen wieder auf den Abbau und die Verwendung von Kohle zurückgreifen mussten. Die Kohlegruben lagen im Inneren des Landes, und die Kohle wurde von den Transportern in die Stadt an der Küste gebracht, wo sie in Lagern im Westen und im Osten abgeladen wurde. Heute waren die Wetterlagen nicht mehr so leicht vorherzusehen wie vor dem Beginn des Nichts, denn die meisten Wetterstationen mitsamt allen Geräten waren damals zerstört worden, und so war Smog nichts Unübliches, aber etwas, auf das sofort reagiert werden musste. Bei Smog kamen mehr Menschen als sonst in das Vergnügungsviertel, da sie bei einer Inversionswetterlage nicht heizen durften, damit durch die verbrannte Kohle nicht noch mehr Smog entstand.

Um einundzwanzig Uhr begann das Varieté mit seiner Show. Maurice ging in den Zuschauerraum und sah sich das Publikum an. Er begrüßte die Menschen, machte Späße, wies Plätze an. Schon um zweiundzwanzig Uhr dreißig folgte die zweite Show des Abends, also wollte er, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Anfang der Show gut lief, wieder hinaus auf die Straße, um neues Publikum anzulocken. Er schlüpfte durch die Türe des Zuschauersaals ins Foyer, durchquerte es, den Stock schwingend und bemerkte Linus, der sich auf die Kassentheke stützte und auf die Straße sah.
„Was zum Teufel ist das denn?“, fragte Maurice und ging hinaus. Die Straße war komplett in Smog gehüllt. Er hörte Linus vom Kassenhäuschen sagen: „So wenig hat man zum letzten Mal gesehen nach … damals, danach … nach dem Licht.“ Maurice wollte antworten und drehte sich zu Linus um. Linus war nicht zu sehen. Maurice streckte seinen Arm nach ihm aus und sah seine eigene Hand im Smog verschwinden.

Mira kam aus dem Büro zurück in den Bibliothekssaal. „Wir sollten nach Hause gehen.“
„Willst du vorsichtshalber mit zu mir kommen? Ich wohne näher.“
„Nein, aber danke.“ Mira holte die Masken aus der Schublade. „Ole kommt doch heute zurück.“
Sie zogen ihre Mäntel an und bevor Mira die Tür schloss, warf sie einen letzten Blick in den Saal. Sie konnte nur noch die erste Reihe der Regale sehen, danach stand der Smog wie eine graue Wand. Die Wohnung der Kollegin lag auf Miras Weg, nur etwa fünf Minuten entfernt. Inzwischen war es so neblig, dass sich die Menschen an den Häuserwänden entlang tasteten. Mira verabschiedete sich und ging ein paar Minuten weiter die Straße entlang. Die Explosion, die den Himmel im Westen der Stadt hell aufleuchten ließ, war nicht laut, sondern eher dumpf. Die Menschen auf der Straße hatten sie dennoch gehört und blieben stehen. Nun fiel ihnen auch auf, warum sie sie gehört hatten. Es lag eine ungewöhnliche Ruhe über der Stadt, als ob der Smog alle Geräusche einschließen würde. Die wenigen Autos waren stehen geblieben, die Handwerksbetriebe und Manufakturen hatten ihre Arbeit für diesen Tag schon eingestellt, denn der Strom wurde am Abend gedrosselt. Auch die Menschen waren schweigsam. Sie hörten dem Nebel zu und dem, was sie nicht oder nur schemenhaft sehen konnten. Mira bog um eine Straßenecke. Vor ihr lag das Vergnügungsviertel, dessen Helligkeit sie nur erahnen konnte und die ihr tröstlich vorkam. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie isoliert und hilflos sie war. Im Vergnügungsviertel hatten sie Aggregate und dort wurde der Strom am Abend auch nicht reduziert. Es war noch gar nicht lange her, da hatte man beschlossen, der Stadt ein „kontrolliertes Vergnügungsviertel“ zu geben. Über die Jahre hinweg waren die Menschen aggressiv geworden. Die Dunkelheit, der Staub, das Nichts vor der Stadt hatte die Nerven blank gelegt. Der Mangel an alltäglichen Dingen, vor allem aber an Nahrung hatte sie unsicher und ängstlich werden lassen. Vor fünfzehn Jahren hatte man das Hafenviertel dann zu einem Vergnügungsviertel gemacht, in das seitdem am Abend die Menschen kamen, um zu essen, sich immer wieder die gleichen Filme anzusehen, oder in Varietés oder Lesungen zu gehen. Die alten Menschen erzählten, dass es früher, bevor es überhaupt Strom gegeben hatte, ganz normal war, am Abend zusammen zu sitzen und sich Geschichten zu erzählen. Früher hätten die Menschen Lagerfeuer gemacht und sich darum gesetzt, so wie es heute die Fahrer der Transporter auf ihren Touren noch taten. Das war vielleicht einer der Gründe, warum die Fahrer einen gewissen Ruf, aber auch ein gewisses Ansehen hatten. Es waren Männer der alten Art, harte Kerle, frei von Angst, denen dieser Hauch des Verbotenen anhaftete, denn manchmal bogen sie von ihrem Weg ab, fuhren in eine zerstörte Stadt und durchsuchten sie. Wenn sie etwas fanden, brachten sie es nicht, wie die Beschaffungsteams, ordnungsgemäß in die Stadt, sondern schmuggelten es in ihren Transportern herein. Und anders als die Beschaffungsteams brachten sie auch unnützes Zeug mit, das aber hoch begehrt war. Artefakte aus der Vergangenheit. Unbezahlbar waren batteriebetriebene Kleingeräte. Ein sogenannter iPod hatte vor drei Jahren zu einem ernsthaften Tumult auf dem Schwarzmarkt geführt, bei dem es einige Verletzte gegeben hatte. Auf einem seiner Ausflüge in eine Stadt hatte Ole einen Ring gefunden und ihn Mira mitgebracht, die ihn seitdem gut versteckte. Schmuck war etwas, das eingeschmolzen und zu praktischen Dingen verarbeitet wurde.
An diesen Ring dachte Mira im Moment aber nicht. Sie dachte zwar an Ole, vor allem aber konzentrierte sie sich darauf, unbehelligt bis zum Licht im Vergnügungsviertel zu kommen. Sie tastete sich weiter an der Hauswand entlang dem schwachen Schein entgegen.

„Habt ihr das gesehen?“, rief Louis. Die Männer hatten ihre Lichter wieder angemacht und bewegten sich weiter auf der Straße der Stadt entgegen.
„War das die Station im Westen?“, fragte Anselm.
„Wenn das die Station war, war es das mit uns und der Stadt, also hört auf zu quatschen“, ermahnte Ole die Männer und griff zu seinem Funkgerät. „Hier Ole Andersson, erster Fahrer von Trupp vier. Weststation, könnt ihr mich hören?“
Er bekam keine Antwort.
Anselm sagte: „Wir kommen gerade erst in Reichweite, Ole.“
„Hier Ole Andersson, erster Fahrer von Trupp vier. Weststation, bitte kommen!“
Wieder keine Antwort.
„Hier Ole Andersson vom Trupp vier. Weststation, bitte kommen!“
Knackend meldete sich eine gehetzte Stimme aus dem Funkgerät. „Hier Weststation. Kommen Sie nicht zu uns, es hat einen Unfall gegeben. Kommen Sie nicht zu uns!“
„Was ist passiert?“, rief Ole in das Funkgerät, „wir haben eine Explosion gesehen!“
„Ich wiederhole: Kommen Sie nicht zu uns, umfahren Sie uns großräumig“, befahl die Stimme von der Weststation.
„Herrgott nochmal, was ist passiert?“, rief Ole.
Es war für einen langen Moment still. Dann knackte das Funkgerät wieder. „Die Weststation brennt“, sagte die Stimme verloren. „Bleiben Sie draußen vor der Stadt, dort ist es jetzt sicherer.“

„Was bedeutet das?“, fragte Alma nach einiger Zeit in die Stille hinein. Ole hatte sich mit den Ellenbogen auf sein Lenkrad gelehnt und rieb sich die Augen.
„Wenn das Kohlelager im Westen wirklich brennt, werden große Mengen an Schwefeldioxid freigesetzt, ein stechendes, giftiges Gas, das die Atemwege angreift und sich als Ruß überall festsetzt. Es sammelt sich in der Stadt wie unter einer Glashaube.“
„Das ist tödlich.“ Stellte Alma leise fest.
„Ist es“, antwortete Ole und startete seinen Transporter. Er fuhr rückwärts an den Straßenrand und entlud die Kohle.
„Ole, was machst du?“, fragte Louis.
„Er fährt in die Stadt“, antwortete Anselm und entlud seinen Transporter ebenfalls.

Maurice hatte sich zu Linus zurück getastet und hantierte nun an dem alten Radio herum. Kaum hatte er den einzigen Sender eingeschaltet, den es überhaupt gab, hörten sie die Warnung, die in einer Dauerschleife gesendet wurde. Die Menschen wurden aufgerufen, in die nächsten Häuser zu gehen, Menschen in ihre Wohnungen aufzunehmen und die Schutzmasken anzuziehen. Babies, Kleinkinder, Kranke und alte Menschen sollten mit nassen Decken bedeckt werden. Maurice lief durch das Foyer zum Zuschauerraum. Die ersten Smogschwaden zogen über den roten Teppich. Er öffnete die Türe zum Zuschauersaal und blickte über das Publikum zur Bühne. Die Show lief wie immer, die Artisten und Künstler waren ein eingespieltes Team. Das Publikum lachte und staunte. Maurice blickte durch die offene Türe ins Foyer, wo Linus nun stand.
„Du musst sie warnen“, sagte er leise.
Maurice blickte zur Bühne, auf der der Smog wie Nebelschwaden aufgetaucht war und durch die Bühnenbeleuchtung wie ein dramatischer Effekt aussah. Das Publikum war begeistert. Maurice lief an der Wand des Zuschauerraumes entlang in Richtung Bühne. Er sah die ersten Menschen im Saal, die den Nebel bemerkten, der sich wie ein lebendiges Wesen fortbewegte und im Zuschauerraum immer dichter wurde. Eine Akrobatin, die auf der Bühne mit immer mehr Hula-Hoop Reifen hantierte und sie mit ihren schmalen Hüften im Kreis schwingen ließ, begann zu husten. Maurice betrat die Bühne.

Miras Augen tränten, die Sicht betrug nur noch etwa vierzig Zentimeter. Sie stieß mit anderen Menschen zusammen, hielt sich an ihnen fest, spürte, wie sich an ihr selbst wiederum andere festhielten. Um sie herum hörte sie viele Menschen husten. Sie erreichte den Eingang zum Vergnügungsviertel, einen großen Platz, von dem die Straße abging, in der sich die beiden großen Varietés befanden. Rechts und links vom Straßeneingang waren die beiden beliebtesten Küchen der Stadt. Früher hatte man so etwas Restaurant genannt, heute gab es das aber nicht mehr, denn dafür gab es nicht mehr genug Lebensmittel. Mira stolperte an den Tischen und Stühlen vorbei, die auch um diese Jahreszeit noch draußen standen. Jemand hielt sich seit einiger Zeit an ihr fest, eine Frau, die sich an Miras Mantel klammerte. Plötzlich fiel diese Frau hinter ihr hin und riss Mira mit sich, die neben einem Stuhl zu Boden kam.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte die Frau, „da lag etwas auf dem Boden, entschuldigen Sie bitte.“
„Ist schon gut“, antwortete Mira. „Nichts passiert.“
Eine Person hatte sich ihnen genähert. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte der Mann.
„Danke, uns geht es gut, nichts passiert“, sagte Mira. Dann hörte sie den leisen Schrei der Frau.
„Was ist?“, fragte Mira.
„Ich glaube, da liegt jemand“, sagte die Frau und tastete im Nebel nach dem Grund ihres Sturzes. „Da! Hallo? Hallo!“
Mira und der Mann tasteten den Boden ab, dort, wo es die Frau tat. Eine Person lag halb unter dem Tisch. Sie zogen sie hervor, nahe zu sich heran, um sie überhaupt sehen zu können: Tote Augen starrten sie aus einem verzerrten Gesicht an.

Aus dem Nebel löste sich eine Gestalt und Ole riss seinen Transporter zur Seite. Er schaute in den Rückspiegel und hörte erleichtert, dass auch die anderen Transporter rechtzeitig stehen geblieben waren. Keiner war in den Vordermann hineingefahren. Außer dem Smog, der von den Scheinwerfern seines Hintermannes erleuchtet wurde, konnte Ole nichts erkennen.
„Was ist los, Ole?“, rief Anselm über Funk.
„Nichts, mir war nur, als hätte ich was gesehen.“ Langsam lenkte Ole den Transporter wieder auf die Straße, als Alma aufschrie. Vor ihnen lösten sich Menschen aus dem Grau. Ole öffnete das Fenster, ein Mann kam zu ihm und zog seinen Atemschutz herunter. „Das Kohlelager brennt“, sagte er, „wir müssen raus aus der Stadt.“
„Ja, aber wohin wollt ihr denn, da draußen ist nichts“, antwortete Ole.
„Da drinnen ist jedenfalls der Tod“, sagte der Mann, zog sich seinen Atemschutz wieder auf und verschwand.

Die hinteren Transporter hatten die ersten Menschen aufgenommen und fuhren sie weiter aus der Stadt hinaus, während Ole, Anselm, Louis und sieben weitere Transporter in die Stadt fuhren, um noch mehr Menschen herauszuholen. Menschen mit ihren wenigen Habseligkeiten stiegen auf die Ladeflächen, und Ole überlegte, was er mitnehmen würde: Mira.
„Ich werde zum Nahrungsmitteldepot fahren“, gab er über Funk durch. „Anselm, Louis, kommt mit mir!“
Er wollte weiter in die Stadt hinein fahren, aber es war unmöglich, noch etwas zu sehen. Ole griff hinter seinen Sitz in seine Schlafkoje und zog ein Seil hervor.
„Alma, du musst mir helfen“, sagte er. „Du musst mich führen.“
Alma band sich das Seil um den Körper und lief mit einer Taschenlampe direkt neben der Fahrertüre, eine Hand am Transporter, die andere nach außen gestreckt. Mit den Füßen tastete sie nach der Bordsteinkante und lotste Ole so Zentimeter um Zentimeter in Richtung Vergnügungsviertel, denn dort waren die Nahrungsmittellager. Von Zeit zu Zeit lief sie ein paar Meter weiter weg, um den Weg zu suchen, aber niemals ging sie weiter als das Seil reichte. Die anderen Transporter fuhren so dicht wie möglich auf, um den Anschluss nicht zu verlieren.

Mira war weitergelaufen. Eine Stimme forderte die Menschen auf, ihr zu folgen, und so folgte sie dieser Stimme.
„Kommen Sie hierher!“, rief Maurice, „gehen Sie hinein, kommen Sie runter von der Straße!“
Mira tastete sich durch den Nebel. „Wo sind Sie?“
„Kommen Sie hierher, kommen Sie rein! Hier bin ich. Folgen Sie dem Licht der Leuchtreklame!“ Maurice fing seinerseits an, in den Nebel zu tasten, aber er blieb mit einer Hand am Kordelständer, an dem eine dicke, rote Kordel hing, die den Eingang zum Varieté abgrenzte.
„Ich kann Sie nicht finden!“, rief Mira.
„Folgen Sie meiner Stimme, kommen Sie hierher“, wiederholte Maurice nun immer wieder und streckte seine Hand in den Nebel. Er behielt die Kordel fest in der Hand. Trotzdem hatte er Angst, nicht mehr zurück zu finden, auch wenn er sich nur wenige Meter vor dem Eingang des Varietés befand. Außer der Frau konnten keine Menschen mehr auf der Straße sein, denn es war unnatürlich ruhig geworden. Das Foyer des Varietés hatte sich mit Menschen gefüllt, die zwar gefasst, aber dennoch voller Angst waren.
„Maurice, komm rein!“, rief Linus.
„Es ist noch eine Frau hier draußen!“, rief Maurice zurück. „Hallo, wo sind Sie? Sind Sie alleine?“
„Ja“, antwortete Mira in den Nebel hinein, „ich habe die beiden anderen verloren. Sie waren plötzlich einfach weg.“
„Kommen Sie hierher“, sagte Maurice nun ganz ruhig, denn er konnte die Panik in Miras Stimme hören. „Folgen Sie meiner Stimme, kommen Sie hierher, ich warte hier auf Sie, Sie werden mich finden, folgen Sie einfach nur meiner Stimme.“
Er hörte Mira weinen, als aus dem Nichts eine Hand nach seiner tastete.

„Alma, ist das die Kirche?“
„Ja“, antwortete Alma, die gerade wieder zum Transporter zurückkehrte. „Wohin jetzt?“
Ole nahm sein Funkgerät. „Anselm, bleib da stehen“, sagte er. Dann wandte er sich wieder an Alma, die er schemenhaft neben dem Transporter erkennen konnte. „Du musst mich zur Seite lotsen.“ Als er seinen Transporter an die Seite gefahren hatte, machte er den Motor aus.
„Geh nach hinten zu Anselm und lotse ihn zum Nahrungsmitteldepot. Ich werde zu Fuß weitergehen“, sagte er zu Alma.
„Was! Bist du wahnsinnig! Warum?“
„Ich muss meine Frau abholen. Sie hat es hoffentlich bis in ihre Wohnung geschafft, sie …“ Er sah hinunter zu Alma, die er nur schemenhaft erkennen konnte. „Wo wohnt deine Mutter?“
Alma antwortete nicht.
„Alma, wo wohnt deine Mutter?“
Almas schemenhafte Gestalt zog sich an der Türe des Transporters hoch zum Fenster.
„Ole, hier draußen liegen Menschen. Tote Menschen. Sie liegen an den Häuserwänden. Meine Mutter hat Asthma …“
Ole hörte Traurigkeit in Almas Stimme, aber auch eine Stärke, einen Willen zum Überleben. Er griff mit der Hand nach ihr, zog sie näher heran, so nah, dass er tatsächlich ihr Gesicht erkennen konnte. Es war bedeckt vom schwarzen Ruß, der sich auf alles niederließ.
„Nimm das Seil und geh zu Anselm. Ich werde erst loslassen, wenn du bei ihm bist.“
Alma verschwand im Nebel.
„Anselm, Alma kommt zu dir“, gab er über Funk durch.
„Warum?“, fragte der zurück. Ole schwieg.
„Verstehe“, sagte Anselm. „Wir sehen uns am Lagerplatz, dorthin werden wir die Menschen bringen. Alma ist jetzt da.“
„Ja, wir sehen uns.“
Als das Seil ruckte ließ Ole das Ende fallen. Dann stieg er aus und machte sich auf den Weg zu Miras Wohnung.

Das kleine Kind hustete seit zehn Minuten ununterbrochen. Seine Mutter versuchte es zu beruhigen, aber nichts half. Für die anderen Menschen war es unmöglich wegzuhören. Anderen anwesenden Kindern erzählte man Geschichten, eine Frau sang leise „Old McDonald had a farm“, doch die Kinder sangen nur ängstlich die Geräusche der Tiere mit. Dann verstummte plötzlich das Husten. Die Stille, die dem Husten hinterher gekrochen kam, breitete sich im Foyer aus und war erdrückender als der Smog, der an den rot gestrichenen Wänden empor stieg. Das lautlose Weinen der Mutter klang erschöpft.
Linus hatte das Radio leise gedreht, hielt sein Ohr nahe daran und sah auf seine Hände hinab.
„Alt bin ich geworden“, murmelte er leise vor sich hin. „Wenn ich sterbe, stirbt auch die Erinnerung an die Farben, und irgendwann wird es auch die nicht mehr geben. Irgendwann sind auch die Erinnerungen im Nichts verschwunden. Dahin gehen wir alle. Ins Nichts.“
Plötzlich schrak er auf und lauschte.
„Da!“, rief er. „Sie sagen was von Transportern, die die Menschen aus der Stadt bringen!“
Er drehte das Radio so laut, dass alle im Foyer es hören konnten.
„Und wohin bringen sie uns? Nach draußen? Da ist doch nichts! Da ist nur der Tod!“, rief ein Mann im Anzug, der seine Aktentasche umarmt hielt.
„Hören Sie, alles wird gut gehen. Wenn sich die Wetterlage ändert, wird der Smog abziehen“, versuchte Maurice den Mann zu beruhigen.
„Und das Scheißfeuer? Das ist ein Kohlebrand, den kann man nicht so einfach löschen! Was sollen wir denn da draußen?“
„Seien Sie doch ruhig um Gottes Willen!“, rief die Frau, die ihren Kindern Old McDonald vorgesungen hatte. „Hier sind Kinder!“
„Sie werden hier drin alle verrecken!“, rief der Mann. „Ich werde nicht bleiben, ich werde … ich werde zu den Booten gehen!“
„Sie wissen doch, dass es nur vierzehn kleine Segelboote im Hafen gibt, da passen nicht viele Menschen drauf, das ist zu riskant. Bleiben Sie hier und warten Sie auf die Transporter.“
Maurice hatte die Arme ausgebreitet und versuchte, dem Mann den Weg nach draußen zu versperren.
„Die haben uns angelogen“, rief der Mann, „es gibt große Schiffe draußen auf dem Meer. Lassen Sie mich durch!“
Der Mann rannte Maurice um und stürmte aus dem Foyer. Augenblicklich war er nicht mehr zu sehen. Maurice war hingefallen, sein Zylinder rollte über den Boden. Er stand auf und strich sich über die Haare. „Bleib ruhig“, sagte er zu sich selbst und strich den Stoff seines Anzugs glatt. Ein Junge stand neben ihm und reichte ihm den Zylinder. „Vielen Dank“, sagte Maurice und setzte ihn auf. „Möchte jemand ein Getränk?“, fragte er dann.
„Nun“, sagte Linus ruhig. „Ich bin zwar schon alt, aber ich bin fest entschlossen, das hier zu überleben.“

Ole stolperte über Körper, die an den Häuserwänden zusammengesackt waren. Einige von ihnen sprach er an oder schüttelte sie an der Schulter. Sie rührten sich nicht mehr. Zweimal hörte er in einiger Entfernung ein Husten, aber auf sein Rufen antwortete niemand. Dann hörte er jemanden „Hallo“ rufen. Ole antwortete und hörte wieder ein „Hallo“. Dieses Mal von weiter weg.
„Wo sind Sie?“, rief Ole. Aber er bekam keine Antwort.
Anfangs tastete er sich langsam von Gehsteig zu Gehsteig. Doch schließlich lief er einfach in den Smog hinein, um eine Straße zu überqueren. Seine Fingerkuppen waren aufgescheuert, weil er mit ihnen an den Häuserwänden entlang strich, seine Knie aufgeschlagen, weil er immer wieder hinfiel. Er stolperte abermals über einen am Boden liegenden Körper und fing sich mit ausgestrecktem Arm gerade noch ab. Er hustete vornübergebeugt und spuckte schwarzen Ruß aus. Eine Hand ergriff sein Handgelenk.
„Helfen Sie mir“, flüsterte die Stimme eines Mädchens, „Bitte, helfen Sie …“ Dann hustete das Mädchen und Ole wusste, es war zu spät.
„Es tut mir Leid“, sagte er und stolperte weiter. Nach etwa einer Stunde erreichte er Miras Haus, schleppte sich die Treppen bis ins dritte Stockwerk hinauf und wurde mittlerweile selbst immer wieder von Hustenanfällen geschüttelt. Er öffnete die Türe und rief Miras Namen. Er durchsuchte jeden Winkel. Mira war nicht da. Er rannte die Treppe hinunter, musste wieder husten. Eine Wohnungstür ging auf. Jemand forderte ihn auf, hereinzukommen, aber Ole ging zurück auf die Straße. Er wollte zu seinem Transporter.
„Haben Sie Feuer?“, fragte ein Mann, mit dem er zusammenstieß. Ole blickte ungläubig den Schatten an.
„Wie bitte?“
„Feuer, haben Sie Feuer für meine Zigarette? Ich habe mir all die Jahre eine Zigarette aufgehoben“, sagte der Mann.
„Was ist los mit Ihnen“, schrie Ole und ging rückwärts von dem Mann weg. Er stolperte abermals, fiel zu Boden, rappelte sich auf und schrie: „Seid ihr alle wahnsinnig geworden?“ Er begann, sich um sich selbst zu drehen und irre zu lachen. Er prallte an eine Straßenlaterne, stolperte weiter, fiel über tote Menschen, rammte einen Mülleimer. Irgendwann erreichte er die Kirche, an der er Alma zu Anselm geschickt hatte und fand seinen Transporter. Dort angekommen setzte er sich hinter das Steuer, umgriff es fest mit beiden Händen und starrte gegen die graue Wand aus Smog. Er griff so fest zu, dass seine Hände zu zittern begannen.
Das Funkgerät knackte. „Hier Anselm an alle, passt auf dem Stadtring auf, da liegt ein umgestürzter LKW. Bleibt nah zusammen.“
Mühsam richtete Ole seinen Blick auf das Funkgerät. Dort hing ein Bild von Mira. Er nahm sein Funkgerät.
„Hier Ole, ich komme zu euch.“
„Hier Anselm“, kam es ruhig zurück. „Schön von dir zu hören, wir warten auf dich, Kumpel.“ Es war nicht nötig, nach Mira zu fragen, Oles Stimme verriet genug.
Ole fuhr in Richtung der Nahrungsmitteldepots. Dort angekommen waren Anselm, Louis und die anderen in der Halle damit beschäftigt, die Transporter mit Lebensmitteln zu beladen. Anselm entdeckte Ole und sah ihn an.
Ole schüttelte den Kopf, dann packte er eine Kiste und trug sie zu seinem Transporter.

Die Kolonne bewegte sich langsam aus der Stadt hinaus, die Ladeflächen bis oben vollgepackt mit Lebensmitteln. Sie trafen auf andere Transporter, voller Menschen. Es dauerte alles eine Ewigkeit. Etwa zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt klarte der Smog ein wenig auf.
Ole wollte nicht nachdenken. Er versuchte, sich auf den Weg zu konzentrieren. Was sollte aus den Menschen werden, die eng zusammengepfercht auf den Ladeflächen standen und nicht wussten, wohin sie gebracht wurden? Sie kannten nur die Stadt. Als sie den Sammelplatz erreichten, entließen die Transporter die Menschen, die, schwarz vor Ruß, ins Nichts torkelten und sich umsahen.
Wir kippen sie aus wie die Kohle, dachte Ole. Und dann dachte er an Mira.
„Ich fahre zurück in die Stadt.“
Louis sah auf. „Das meinst du nicht ernst, oder?“
Ole sah in Richtung der Stadt.
„Ich fahre.“
Im Rückspiegel sah er, wie Alma Wasser an die erschöpften und verängstigten Menschen verteilte.

Im Foyer hatten sich alle auf den Boden oder die Stühle gelegt und versuchten, so ruhig wie möglich zu atmen. Linus saß immer noch vor dem Radio und hörte der Endlosschleife zu. Maurice beobachtete ihn. Der alte Mann sieht aus, als hoffe er, der Text der Durchsage würde sich endlich verändern, dachte er und ging zu ihm.
„Ich gehe mal raus, Linus.“ Er ging an den Eingang und blickte hinaus in die gespenstische Ruhe. Mira stellte sich neben ihn.
„Danke, dass Sie mir geholfen haben.“
„Gern geschehen.“
Sie hörten beide das Geräusch draußen auf der Straße. Es folgte ein zweites Geräusch an einer anderen Stelle. Sie entfernten sich ein Stück vom Eingang, Maurice löste die rote Kordel vom Ständer und gab Mira ein Ende in die Hand. Zögernd ging sie auf die Straße hinaus. Sie wusste, dass der Smog sich langsam zurückzog, denn sie konnte die Toten sehen, deren Augen sie anstarrten, als hätten sie bis zum letzten Augenblick versucht, etwas anderes zu sehen als das Grau, das sie umgab. Wieder das Geräusch, dann noch eins, und noch eins. Und dann viele. Mira blickte in den Himmel, wo die Hoffnung schwer in den Wolken über der Stadt hing.

Ole sah, wie der erste Regentropfen groß und rund auf seiner Windschutzscheibe landete. Er stieg aus und kletterte auf das Dach seiner Fahrerkabine, um die Stadt besser sehen zu können, über der der Tag anbrach. Er sah das Feuer, das im Westen wütete und große Teile der Stadt zerstört hatte, und er sah große Menschengruppen, die zu Fuß aus der Stadt flüchteten. Während er ihnen entgegen fuhr, prasselte der Regen gegen seine Windschutzscheibe.

 

Wollt ihr etwas über die Hintergründe zu dieser Geschichte? Dann folgt den Links zu Wikipedia und zwei Artikeln im Spiegel.

https://www.spiegel.de/geschichte/der-great-smog-von-1952-toedlicher-nebel-ueber-london-a-947835.html

https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/london-forscher-klaeren-ursache-des-todesnebels-von-1952-a-1121933.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Smog-Katastrophe_in_London_1952#:~:text=Die%20gro%C3%9Fe%20Smog%2DKatastrophe%20(englisch,Atemprobleme%2C%20an%20denen%20Tausende%20starben.