Es klopft an meiner Türe und meine alte Nachbarin will wissen, ob ich den Zettel an der Haustüre gelesen habe. „Ja“, sagte ich, „den habe ich da hingehängt, weil ich auf eine Lieferung warte und die Klingel kaputt ist.“

Eine dreiviertel Stunde später bin ich über das Leben der Frau Schuchkow informiert. Ihre Kindheit, hart aber lustig, ihre Kinder, der tote Ehemann, mit dem sie sich manchmal in der Wolle hatte und der so anders war als sie selbst, die weinerliche Schwester und der Krieg.
Hört man alten Menschen zu, klingt deren Kindheit immer sehr hart, aber immer auch irgendwie glücklich. Frau Schuchkow erzählt, wie sie das erste Mal ein Huhn geschlachtet hat, ohne zu wissen, dass ein Huhn auch ohne Kopf rennen kann. Wie sie ein Schwein festhalten sollte, weil der Vater ihm einen Nasenring verpassen wollte. Da hat sie sich einfach auf das Schwein gesetzt. Das Schwein rannte los und sie oben drauf. Nicht loslassen wollte sie vor lauter Angst. Sie erzählt es und lacht so sehr, dass sie sich am Türrahmen festhalten muss.

Dann erzählt sie, dass sie heute Morgen Kaffeetrinken war und im selben Satz sind wir wieder in der Vergangenheit. Damals, als die Soldaten vor ihren Augen ein Kind getötet haben. „Die hatten ja so Messer vorne am Gewehr“. Diese Bilder in ihrem Kopf, die wird sie nicht los, auch nach so langer Zeit nicht. Die Schwester denke da ja gar nicht dran, die meint, sie sei gar nicht dabei gewesen. Frau Schuchkow aber sagt, die stand daneben und hat es wie sie gesehen. „Die verdrängt das, die kann das irgendwie“, meint die alte Dame und gibt mir im gleichen Atemzug ein Rezept für schlesische Gurken.

Wie immer reagiere ich auf die Geschichten des Krieges gleich. Man nickt und hört zu, aber man kann nichts dazu sagen, was irgendwie angebracht klingen würde. Man kommt sich seltsam vor, vielleicht jung, vielleicht unerfahren, da keine Lebenserfahrung damit vergleichbar wäre. Und man überlegt, wie es wohl sein wird, wenn diese Leute nicht mehr unter uns sind. Es ist die aussterbende Generation, die Letzten, die es noch aus eigener Erfahrung erzählen können. Die Generationen nach uns werden nie das Gesicht meiner Großmutter sehen, als sie auf meine kindliche Frage, wie es denn im Krieg gewesen sei, nur sagte: „Schlimm, sehr schlimm.“

Wir alle kennen diese Geschichten. Wir haben in der Schule die Geschichtsbücher gelesen, wir haben uns Dokumentationen im Fernsehen angeschaut, wir kennen die Erzählungen. Und manchmal hört man Geschichten, bei denen man sich fragt: War es denn so?

An einem Abend zu Besuch bei den Schwiegereltern. Die beiden beginnen zu erzählen. Über die Zeit in Schlesien, die Flucht, den Vorteil, Polnisch sprechen zu können, die schlimmen Geschichten. Der Schwiegervater erzählt von den Toten auf dem Hof, und dass er die Schüsse noch heute hört. Und dann ist es passiert, erzählt er. Der Vater kam zurück. Er sagt: „Ich habe ihn gesehen. Er stand vor mir, er war da. Und dann ist er gegangen und ich wusste, dass es das war. Der Vater war gefallen.“ Dann atmet der tief ein, schaut vor sich auf den Tisch und sammelt ein paar Krümel ein. „Da gibt es mehr, als du glaubst. Da sind Dinge zwischen Himmel und Erde. Ich habe das erlebt.“

Wie realistisch sind solche Geschichten? Was sagt man, wenn man sie erzählt bekommt? Wurden solche Geschichten wirklich so erlebt, oder sind sie später erst entstanden in einem Gedächtnis, das Dinge speichern und verarbeiten muss, für die es keinen Raum gibt und die man nicht verstehen kann. Muss man denn etwas dazu sagen?

Frau Schuchkow meint, sie müsse jetzt noch was tun und verschwindet in ihrer Wohnung. Ich stehe da und denke darüber nach, dass ich in der kurzen Gesprächszeit über den Ritt auf dem Schwein gelacht habe, oft aber einfach nur still gewesen bin. Was soll man denn auch sagen? Man kann still sein, und vielleicht ist das die einzig richtige Reaktion. Stille ist das, was Raum gibt. Raum für Dinge, die eigentlich nicht sein sollten, die aber doch ihren Platz einfordern.